EuGH zur wirtschaftlichen Tätigkeit öffentlicher Einrichtungen bei Erhebung kaum kostendeckender Gebühren

Anmerkung zu EuGH, Urt. v. 12.05.216, C-520/14, Gemeente Borsele

Praxisproblem

Bei Leistungen der öffentlichen Hand an Endverbraucher gegen verhältnismäßig geringe, kaum kostendeckende Gebühren stellt sich bisweilen die Frage, ob eine wirtschaftliche Tätigkeit der öffentlichen Einrichtung vorliegt, die als ein steuerbarer Leistungsaustausch aufzufassen ist, mit der Folge, dass die öffentliche Einrichtung als Unternehmer tätig wird.

Sachverhalt

Das niederländische Vorabentscheidungsersuchen betraf die Auslegung von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c und Art. 9 Abs. 1 MwStSystRL. Klägerin war eine Gemeinde, die mit Personenbeförderungsunternehmen Verträge abgeschlossen hatte, durch die diese verpflichtet wurden, Fahrschüler zwischen bestimmten, von der Gemeinde vorgegebenen Orten zu befördern. Die Personenbeförderungsunternehmen rechneten die Beförderungsleistungen der Gemeinde gegenüber mit Steuerausweis ab. Auf Grundlage einer „Verordnung über den Schülerverkehr“ erhob die Gemeinde von den Eltern der Fahrschüler einen (Kosten-)Beitrag, dessen Höhe je nach Fahrstrecke und Einkommen der Eltern variierte. Die Summe der im Streitjahr von den Eltern vereinnahmten Beiträge belief sich auf ca. 3 % der der Gemeinde im Zusammenhang mit den Fahrschülerbeförderungen insgesamt entstandenen Kosten.

Das Vorlagegericht wollte im Wesentlichen wissen, ob der von den Eltern an die Gemeinde gezahlte Beitrag als Entgelt für eine wirtschaftliche Leistung der Gemeinde (Personenbeförderung) anzusehen und die Gemeinde insoweit Steuerpflichtiger (Unternehmer) ist. Das Vorlagegericht nahm Bezug auf Art. 13 Abs. 1 i.V.m. Anhang I Nr. 5 MwStSystRL, wonach öffentliche Einrichtungen mit ihren Personenbeförderungsleistungen immer als Steuerpflichtige abgesehen werden, es sei denn, der Umfang dieser Tätigkeiten ist unbedeutend. Das Vorlagegericht verwies weiterhin auf das EuGH-Urteil in der Rechtssache C-246/08, Kommission/Finnland. Danach sind von öffentlichen Einrichtungen (Rechtsanwaltsbüros) Büros erbrachte Rechtsberatungsleistungen, für die die Leistungsempfänger nur einen verhältnismäßig geringen Betrag zahlen, keine wirtschaftlichen Tätigkeiten.

Klärungsbedürftig in dem Verfahren war somit, ob zwischen der Gemeinde und den Eltern der beförderten Schüler, von denen sie auf Grundlage der Gemeindeverordnung Kostenbeiträge erhebt, ein Leistungsaustauschverhältnis besteht, und für das Fall, dass dies zu bejahen ist, ob die Beiträge in Bezug auf Anhang I Nr. 5 MwStSystRL als Entgelt für eine von der Gemeinde erbrachte Personenbeförderungsleistung anzusehen sind.

Entscheidung

In seiner Entscheidung geht der EuGH von seiner ständigen Rechtsprechung zum Leistungsaustausch aus. Danach ist eine Dienstleistung (wie hier der Personentransport) nur dann i.S.v. Art. 2 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL „gegen Entgelt“ erbracht und somit steuerbar, wenn zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger ein Rechtsverhältnis besteht, in dessen Rahmen gegenseitige Leistungen ausgetauscht werden, wobei die vom Leistenden empfangene Vergütung den tatsächlichen Gegenwert für die dem Leistungsempfänger erbrachte Dienstleistung bildet. Der EuGH stellt fest, dass im Ausgangsfall für die Bemessung des Beitrags der Eltern zu den Kosten des Schülertransports nicht auf die tatsächlichen Kosten der erbrachten Dienstleistungen abgestellt wird. Die Höhe dieses Beitrags der Eltern hänge weder mit der Zahl der täglich zurückgelegten Kilometer noch mit dem Selbstkostenpreis pro Fahrt für jeden beförderten Schüler oder der Häufigkeit der Fahrten zusammen. Weiter führt der EuGH aus, dass jedoch der Umstand, dass eine wirtschaftliche Tätigkeit zu einem Preis unter oder über dem Selbstkostenpreis ausgeführt wird, unerheblich ist, wenn es darum geht, einen Umsatz als „entgeltlichen Umsatz“ zu qualifizieren. Dieser Begriff setzt lediglich das Bestehen eines unmittelbaren Zusammenhangs zwischen dem Umsatz des Unternehmers und der Gegenleistung voraus, die der Unternehmer tatsächlich erhalten hat. Aus der Zahlung eines Beitrags zum Schülertransport durch ungefähr ein Drittel der Eltern der transportierten Kinder schließt der EuGH, dass die Gemeinde im Ausgangsfall eine Dienstleistung gegen Entgelt i.S.v. Art. 2 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL erbracht hat.

Allerdings, so der EuGH, reicht das Vorliegen einer gegen Entgelt erbrachten Dienstleistung für die Feststellung einer wirtschaftlichen Tätigkeit i.S.v. Art. 9 Abs. 1 MwStSystRL nicht aus. Unter Bezugnahme auf sein Urteil v. 26.03.1987, 235/85, Kommission/Niederlande führt der EuGH aus, dass für die Feststellung, ob eine Dienstleistung so erbracht worden ist, dass diese Tätigkeit als gegen ein Entgelt erfolgt und somit als eine wirtschaftliche Tätigkeit anzusehen ist alle Umstände zu prüfen sind, unter denen die Tätigkeit erfolgt ist. Der Vergleich zwischen den Umständen, unter denen der Betreffende die fragliche Dienstleistung erbringt, und den Umständen, unter denen eine derartige Dienstleistung gewöhnlich erbracht wird, kann eine der Methoden darstellen, mit denen geprüft werden kann, ob die betreffende Tätigkeit eine wirtschaftliche Tätigkeit darstellt.

Der EuGH stellt fest, dass die Gemeinde Borsele über die Beiträge, die sie erhält, nur einen kleinen Teil der anfallenden Kosten deckt. Ein solcher Unterschied zwischen den Betriebskosten und den als Gegenleistung für die angebotenen Dienstleistungen erhaltenen Beträgen deute darauf hin, dass der Beitrag der Eltern eher einer Gebühr als einem Entgelt gleichzusetzen ist. Aus einer solchen Asymmetrie folge, dass es an einem tatsächlichen Zusammenhang zwischen dem gezahlten Betrag und der Erbringung der Dienstleistungen fehle. Damit weise der Zusammenhang zwischen der von der Gemeinde erbrachten Transportdienstleistung und dem von den Eltern zu entrichtenden Gegenwert nicht die erforderliche Unmittelbarkeit auf, um diesen Gegenwert als ein Entgelt für diese Dienstleistung und damit diese als eine wirtschaftliche Tätigkeit i.S.v. Art. 9 Abs. 1 MwStSystRL ansehen zu können (der EuGH verweist hier auf sein Urteil v. 29.10.2009, C-246/08, Kommission/Finnland). Auch seien die Bedingungen, unter denen die Schülertransporte erbracht werden, anders als bei üblichen Personenbeförderungen. Die Gemeinde biete keine Leistungen auf dem allgemeinen Markt für Beförderungsleistungen anbietet, sondern sei selbst Endverbraucher bei Transportunternehmen, mit denen sie Vertragsbeziehungen habe, und stelle die Transporte den Eltern der Schüler im Rahmen der Daseinsvorsorge zur Verfügung.

Praxishinweis

Das Urteil ist widersprüchlich. Einerseits soll ein Leistungsaustausch vorgelegen und andererseits soll dieser zu keiner unternehmerischen Tätigkeit geführt haben. Der EuGH hat offensichtlich einerseits das Vorliegen einer Leistungskette (die Gemeinde gibt die Personenbeförderungsleistungen als eigene Leistungen weiter) bejaht. Andererseits kommt er zu dem Ergebnis, dass die Personenbeförderungen der Gemeinde deshalb nicht als deren eigene Leistungen zugerechnet werden, weil diese die Eltern an den ihr entstandenen Kosten durch Erhebung eines Beitrags beteiligt hat, d.h. die Kostentragung der Eltern kein Entgelt für eine Beförderungsleistung durch die Gemeinde ist. Anhang I Nr. 5 MwStSystRL war somit im entschiedenen Fall erst gar nicht einschlägig. Der dem EuGH-Urteil in der Rechtssache C-246/08 zugrunde liegende Sachverhalt unterschied sich vom Vorlagefall bereits dadurch, dass die fraglichen Rechtsberatungsleistungen dort auch tatsächlich (unmittelbar) von den öffentlichen Büros erbracht wurden. Dennoch hat der EuGH auch im Vorlagefall die Gemeinde insoweit nicht als Steuerpflichtigen betrachtet, als die von den Empfängern zu zahlende Teilvergütung eher einer Gebühr, deren Erhebung für sich allein einer Tätigkeit keinen wirtschaftlichen Charakter verleihen kann, als einem Entgelt im eigentlichen Sinne gleichzusetzen ist.

Der EuGH hat wiederum für die Beurteilung einer Tätigkeit als wirtschaftliche (unternehmerische) Tätigkeit Wert auf das Vorliegen eines Entgelts gelegt, obwohl der Entgeltbegriff in Artikel 9 ff MwStSystRL bei der Definition des Steuerpflichtigen (Unternehmers) keine Rolle spielt. Dies ist auch deutlich erkennbar in dem EuGH-Urteil in der Sache C-267/08 (vgl. EuGH, Urt. v. 06.10.2009, C-267/08, SPÖ Landesorganisation Kärnten), mit dem der Gerichtshof die nicht kostendeckende Werbetätigkeit der Landesorganisation einer politischen Partei nicht als nachhaltige Erzielung von Einnahmen i.S.v. Art. 4 Abs. 2 Satz 2 der 6. EG-Richtlinie und somit nicht als wirtschaftliche (unternehmerische) Tätigkeit qualifiziert hatte.

Der Entgeltbegriff findet sich jedoch nur in Artikel 2 MwStSystRL bei der Definition der steuerbaren Umsätze (Lieferungen/Dienstleistungen „gegen Entgelt“) bzw. des Leistungsaustauschs als wechselseitiger Zusammenhang zwischen Leistung und Gegenleistung. Es dürfte unstreitig sein, dass die fraglichen Transportleistungen im jetzt entschiedenen Fall zu einem Verbrauch führen und bereits von daher eine wirtschaftliche Tätigkeit vorliegt. Wenn der EuGH der von den Eltern gezahlten Vergütung den Entgeltcharakter abspricht, hätte er zu dem Ergebnis kommen müssen, dass – unabhängig von der Frage ihrer Unternehmereigenschaft – keine steuerbaren Dienstleistungen der Gemeinde vorliegen.

Das Urteil hat auch Bedeutung für das deutsche Recht. In vergleichbaren Fällen erbringen die Kommunen keine unternehmerischen Tätigkeiten.

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