Direktanspruch in der Umsatzsteuer

Anmerkung zu dem BMF-Schreiben v. 12.04.2022

Praxisproblem

In der Rechtsprechung wurde das sich aus dem Unionsrecht ergebende Rechtsinstrument des Direktanspruchs in der Umsatzsteuer (sog. „Reemtsma-Rechtsprechung“) entwickelt. Danach kann unter bestimmten Voraussetzungen ein Leistungsempfänger die Erstattung einer rechtsgrundlos an den Leistenden gezahlten USt direkt vom Fiskus (statt vom Leistenden) fordern.

Sachverhalt

Mit Urteil vom 15.3.2007 – C-35/05 (Reemtsma Cigarettenfabriken) hatte der EuGH zu entscheiden, ob ein Mitgliedstaat MwSt im Vorsteuer-Vergütungsverfahren erstatten muss, die der leistende Unternehmer aufgrund eines Irrtums über den Ort der Leistung entrichtet hat, für die jedoch ein anderer Mitgliedstaat das Besteuerungsrecht hat und für die der Leistungsempfänger die Steuer schuldet (Reverse-Charge).

Dabei hat der EuGH u.a. festgelegt, dass die Möglichkeit besteht, dass der Anspruch auf Rückerstattung der Steuer nicht zivilrechtlich beim leistenden Unternehmer (der die irrtümlich gezahlte USt vom Leistungsempfänger vereinnahmt und abgeführt hat), sondern unmittelbar bei der Finanzbehörde bzw. dem Fiskus, der die Steuer vereinnahmt hat, geltend gemacht wird. Ein solcher Fall soll nach dem Urteil vorliegen, wenn ansonsten die Erstattung unmöglich oder übermäßig erschwert würde, z.B. im Fall der (Rück-)Zahlungsunfähigkeit des leistenden Unternehmers.

Diesen Grundsatz hat der EuGH ausgeweitet und auf Erstattungen im Zusammenhang mit der Lieferung von Gegenständen übertragen (vgl. EuGH v. 31.5.2018, C-660/16 und C-661/16 (Kollroß und Wirtl).

In der Folgezeit wurde der vom EuGH festgestellte Direktanspruch vom BFH aufgegriffen (Urteil vom 11.10.2007 – V R 27/05; Urteil v. 10.12.2008 – XI R 57/06; Urteil v. 30.6.2015 – VII R 30/14; Urteil vom 30.6.2015 – VII R 42/14; Urteil v. 22.8.2019 – V R 50/16), aber auch an immer mehr Voraussetzungen geknüpft und damit eingeschränkt. So wurde vom BFH festgestellt, dass für einen Direktanspruch zum einen erbrachte Leistungen zugrunde liegen müssten und zum anderen über diese Leistungen auch mit Rechnungen abgerechnet werden müsste. In seinen späteren Urteilen ab 2015 argumentierte der BFH zudem, dass über einen Direktanspruch im Rahmen des nationalen Billigkeitsverfahrens nach §§ 163, 227 AO zu entscheiden sei.

Entscheidung

Mit dem BMF-Schreiben v. 12.4.2022 hat die Verwaltung die v.g. Rechtsprechung aufgegriffen und verarbeitet. Danach ist über einen Direktanspruch in der USt im Rahmen eines Billigkeitsverfahrens nach den §§ 163, 227 AO zu entscheiden. Zuständig für die Entscheidung über diese Billigkeitsmaßnahme ist das für die Umsatzsteuerfestsetzung des Leistungsempfängers zuständige FA. Zu entscheiden ist regelmäßig darüber, ob ein Betrag in Höhe der in den fraglichen Rechnungen falsch ausgewiesenen USt trotz Nichtvorliegens der materiell-umsatzsteuerlichen Voraussetzungen – jedenfalls im wirtschaftlichen Ergebnis – als Vorsteuer zu berücksichtigen bzw. ein entsprechender Steueranspruch zu erlassen ist.

Praxishinweise

Folgende Grundsätze sind bei der Billigkeitsentscheidung des FA im Detail beachtlich:

Billigkeitsmaßnahme = Einzelfallentscheidung
Bei einer Billigkeitsmaßnahme handelt es sich stets um eine Entscheidung unter Berücksichtigung und Abwägung der besonderen Umstände des Einzelfalles, wobei ein vorliegendes Mitverschulden des Leistungsempfängers an der Erstellung der falschen Rechnung in die Entscheidung über die Billigkeitsmaßnahme mit einzubeziehen ist.

Zivilrechtliche Geltendmachung der Rückzahlung der USt gegenüber dem Leistenden ist vorrangig
Der Leistungsempfänger muss seinen Anspruch auf Erstattung einer unzutreffend in Rechnung gestellten und rechtsgrundlos gezahlten USt regelmäßig zunächst zivilrechtlich gegenüber dem Leistenden geltend machen. Der Direktanspruch kann daher nur nachrangig gegenüber dem Verfahren zur Steuerberichtigung nach § 14c Abs. 1 UStG zum Tragen kommen.

Erschwerte Erstattung durch den Leistenden wg. Insolvenzverfahren
Von einer von vornherein unmöglichen oder übermäßig erschwerten Erstattung durch den Leistenden ist regelmäßig nur im Fall eines bereits mangels Masse abgelehnten Insolvenzantrages über dessen Vermögen auszugehen. Die bloße Zahlungsunfähigkeit des Leistenden im Sinne der InsO genügt dafür nicht. Über den Direktanspruch kann daher grundsätzlich erst nach Anmeldung der Forderungen zur Tabelle entschieden werden, wenn das Insolvenzverfahren abgeschlossen und ggf. die Quote zugeteilt ist. Sofern in einem laufenden Insolvenzverfahren keine Anmeldung der Forderung zur Tabelle mehr möglich ist, sind die Gründe hierfür bei der Billigkeitsentscheidung über den Direktanspruch zu berücksichtigen.

Inanspruchnahme des Fiskus durch den Leistenden aufgrund Berichtigung einer 14c Abs. 1-UStG-Steuer noch möglich
Über einen geltend gemachten Direktanspruch kann nicht entschieden werden, solange noch eine Inanspruchnahme des Fiskus durch den Leistenden aufgrund einer Berichtigung des Steuerbetrages nach § 14c Abs. 1 Sätze 2 und 3 UStG rechtlich möglich ist. Daher kann z. B. im Insolvenzverfahren regelmäßig erst nach Abschluss des Insolvenzverfahrens über den Direktanspruch entschieden werden. Denn durch das Insolvenzverfahren bleibt der Schuldner (hier Leistender) weiterhin Steuerschuldner. Er verliert lediglich das Verfügungs- und Verwaltungsrecht über sein Vermögen, ihm verbleibt aber die Rechtsinhaberschaft, und er ist im Fall einer Berichtigung Rechtsträger des Erstattungsanspruchs.

Bruttopreisvereinbarung
Der Direktanspruch gegenüber dem Fiskus ist in der Weise akzessorisch zu dem Anspruch des Leistungsempfängers gegenüber seinem Vertragspartner (dem Leistenden), dass ein Direktanspruch gegenüber dem Fiskus ausscheidet, wenn der Anspruch des Leistungsempfängers gegen den Leistenden aufgrund einer zivilrechtlichen Verjährung dieses Anspruchs (z. B. nach § 195 BGB) nicht mehr durchgesetzt werden kann. Auch wenn eine Bruttopreisvereinbarung über die Leistung abgeschlossen worden ist, scheidet ein Direktanspruch aus, da es in diesem Fall schon grundlegend an einem Anspruch des Leistungsempfängers gegenüber dem Leistenden fehlt. Es obliegt dem den Direktanspruch begehrenden Leistungsempfänger nachzuweisen, dass der zivilrechtliche Anspruch gegenüber dem Leistenden (weiterhin) besteht und es unmöglich oder übermäßig erschwert ist, die Erstattung der irrtümlich in Rechnung gestellten und rechtsgrundlos gezahlten USt vom Leistenden zu erlangen.

Rechnungsaussteller muss tatsächlich eine Leistung erbracht haben
Weiterhin kann ein Direktanspruch nur entstehen, wenn der Rechnungsaussteller tatsächlich eine Leistung erbracht hat (bzw. im Fall einer Anzahlungsrechnung zweifelsfrei erbringen wollte), für die mangels Steuerbarkeit oder aufgrund einer Steuerfreiheit oder Steuersatzermäßigung die in der Rechnung ausgewiesene Steuer (in dieser Höhe) nicht gesetzlich entstanden ist. Damit genügt für den Direktanspruch der bloße Steuerausweis in einer Rechnung nicht, er kann daher in Fällen des § 14c Abs. 2 UStG nicht entstehen.

Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers müssen erfüllt sein
Außerdem müssen auch die übrigen für einen Vorsteuerabzug geltenden Voraussetzungen erfüllt sein. Insbesondere muss die Leistung für das Unternehmen des Unternehmers bezogen worden sein und die ausgestellte Rechnung muss – außerhalb des Steuerausweises – ansonsten nach den umsatzsteuerlichen Anforderungen ordnungsmäßig sein.

Fiskus nicht oder nicht mehr bereichert
Weiterhin scheidet ein Direktanspruch in Fällen aus, in denen der Fiskus nicht oder nicht mehr bereichert ist. Hat der Fiskus den abgeführten Steuerbetrag etwa aufgrund einer Rechnungsberichtigung im Verfahren nach § 14c Abs. 1 Satz 2 UStG bereits an den Leistenden zurückgezahlt, kann der Leistungsempfänger jedenfalls in Fällen, in denen das FA zu dieser Erstattung verpflichtet gewesen ist, keinen eigenen Direktanspruch mehr erfolgreich geltend machen.

Leistender hat die USt nicht abgeführt
Gleiches gilt, wenn und insoweit der Leistende die USt nicht an das Finanzamt abgeführt hat. Damit kann ein Direktanspruch nicht entstehen, wenn der Leistende die fragliche USt nicht angemeldet hat (z. B. in Schätzungsfällen, in denen nicht sicher ist, ob die Schätzung auch den fraglichen Steuerbetrag umfasst) oder in Fällen von Steuerrückständen, bei denen unsicher ist, ob und inwieweit die geleisteten Zahlungen die USt aus den fraglichen Rechnungen umfassen.

Leistender erklärt die USt, macht aber ungerechtfertigten Vorsteuerabzug geltend
Auch soweit der Leistende im Fall einer Erklärung der Umsätze gleichzeitig Vorsteuerbeträge aus Rechnungen Dritter abzieht, denen keine Leistungen zugrunde lagen, scheidet ein Direktanspruch aus.

Fälle des § 25f UStG
Unabhängig von den vorgenannten Anforderungen kann ein Direktanspruch nicht entstehen, sofern der Leistungsempfänger wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Leistungsbezug an einem Umsatz im Sinne von § 25f UStG beteiligt.

Fazit

Die strikte Umsetzung der vom BFH aufgestellten Grundsätze zum unionsrechtlichen Direktanspruch durch die Finanzverwaltung führt dazu, dass in der Praxis eine erfolgreiche Berufung auf den Direktanspruch äußert schwierig sein wird. Dieses gilt nicht nur in einem Billigkeitsantrag gegenüber dem zuständigen Finanzamt, sondern dann auch wieder auf dem Klageweg, sollte die BFH-Rechtsprechung so weiter Bestand haben. Insbesondere die Anforderungen an das Vorliegen einer Leistung und das Erfordernis, den Billigkeitsweg in Anspruch zu nehmen, um den Direktanspruch durchzusetzen, sind für den Betroffenen mehr als ärgerlich.

Zu hoffen bleibt hier nur, dass der EuGH zukünftig im Rahmen eines neuen Vorlageverfahrens seine Grundsätze zum Direktanspruch zugunsten der Steuerpflichtigen erweitert.

Unseres Erachtens nach, ist die Auffassung der Finanzverwaltung zu restriktiv. Hier wird die Rechtsprechung nochmals tätig werden müssen. Wenn Sie betroffen sind, sprechen Sie uns gerne an. Das USt-Team der AWB steht Ihnen mit Rat und Tat zur Seite!

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