BFH zur Zuordnung der Warenbewegung bei einer innergemeinschaftlichen Lieferung im Reihengeschäft

Anmerkung zu: BFH, Urteile v. 25.02.2015, XI R 15/14 und XI R 30/13; Umsatzsteuer, Zuordnung der Warenbewegung bei einer innergemeinschaftlichen Lieferung im Reihengeschäft, Zuordnungskriterien und Vertrauensschutz

Praxisproblem

Bei einem Reihengeschäft liegen Umsatzgeschäfte mehrerer Unternehmer über denselben Liefergegenstand vor, bei denen der Gegenstand auf direktem Wege vom ersten Unternehmer an den letzten Abnehmer in der Reihe befördert oder versendet wird. Dabei ist die Beförderung oder Versendung nur einer der Lieferungen zuzuordnen (§ 3 Abs. 6 Satz 5 UStG, so auch EuGH, Urt. v. 06.04.2006, C-245/04, EMAG Handel Eder). Bei Reihengeschäften werden im Rahmen einer Warenbewegung somit mehrere Lieferungen ausgeführt, die in Bezug auf den Lieferort und den Lieferzeitpunkt jeweils gesondert betrachtet werden müssen. Die Beförderung oder Versendung des Gegenstands ist nur einer der Lieferungen zuzuordnen; diese ist die Beförderungs- oder Versendungslieferung und nur bei ihr kommt ggf. die Steuerbefreiung für Ausfuhrlieferungen (§ 6 UStG) oder für innergemeinschaftliche Lieferungen (§ 6a UStG) in Betracht.

Die Beförderung/Versendung in einem Reihengeschäft kann auch durch einen Abnehmer in der Reihe erfolgen, d.h. die Ware kann auch durch den Letztabnehmer beim ersten Unternehmer abgeholt werden oder von einem Unternehmer innerhalb der Reihe beim ersten Unternehmer abgeholt und von dort zum letzten Abnehmer transportiert werden. Wird der Liefergegenstand durch einen Abnehmer befördert oder versendet, der zugleich Lieferer ist, ist die Beförderung oder Versendung der Lieferung an ihn zuzuordnen, es sei denn, er weist nach, dass er den Gegenstand als Lieferer befördert oder versendet hat (widerlegbare Vermutung; § 3 Abs. 6 Satz 6 UStG).

Nach bisheriger deutscher Verwaltungsauffassung ist die Zuordnung der Beförderung oder Versendung zu einer der Lieferungen des Reihengeschäfts davon abhängig, ob der Gegenstand der Lieferung durch den ersten Unternehmer, den letzten Abnehmer oder einen mittleren Unternehmer in der Reihe befördert oder versendet wird. Im Fall der Versendung ist auf die Auftragserteilung an den selbstständigen Beauftragten abzustellen. Sollte sich aus den Geschäftsunterlagen nichts anderes ergeben, ist auf die Frachtzahlerkonditionen abzustellen (Abschn. 3.14 Abs. 7 UStAE). Wird der Gegenstand der Lieferung durch den ersten Unternehmer in der Reihe befördert oder versendet, ist seiner Lieferung die Beförderung oder Versendung zuzuordnen. Wird der Liefergegenstand durch den letzten Abnehmer befördert oder versendet, ist die Beförderung oder Versendung der Lieferung des letzten Lieferers in der Reihe zuzuordnen (Abschn. 3.14 Abs. 8 UStAE). Befördert oder versendet ein mittlerer Unternehmer in der Reihe den Liefergegenstand, ist dieser zugleich Abnehmer der Vorlieferung und Lieferer seiner eigenen Lieferung. In diesem Fall ist die Beförderung oder Versendung nach § 3 Abs. 6 Satz 6 1. Halbsatz UStG somit grundsätzlich der Lieferung des vorangehenden Unternehmers zuzuordnen (widerlegbare Vermutung). Der befördernde oder versendende Unternehmer kann jedoch anhand von Belegen nachweisen, dass er als Lieferer aufgetreten und die Beförderung oder Versendung dementsprechend seiner eigenen Lieferung zuzuordnen ist (§ 3 Abs. 6 Satz 6 2. Halbsatz UStG, vgl. Abschn. 3.14 Abs. 9 UStAE). Aus den Belegen muss sich für diesen Fall ergeben, dass der Unternehmer die Beförderung oder Versendung in seiner Eigenschaft als Lieferer getätigt hat und nicht als Abnehmer der Vorlieferung. Hiervon kann regelmäßig ausgegangen werden, wenn der Unternehmer unter der USt-IdNr. des Mitgliedstaates auftritt, in dem die Beförderung oder Versendung des Gegenstands beginnt, und wenn er aufgrund der mit seinem Vorlieferanten und seinem Auftraggeber vereinbarten Lieferkonditionen Gefahr und Kosten der Beförderung oder Versendung übernommen hat. Den Anforderungen an die Lieferkonditionen ist genügt, wenn handelsübliche Lieferklauseln (z.B. Incoterms®) verwendet werden (vgl. Abschn. 3.14 Abs. 10 UStAE).

Sachverhalt

In der Sache C-430/09, Euro Tyre Holding hatte der EuGH mit Urteil v. 16.12.2010 entschieden, dass es keine Vorschrift in der MwStSystRL gibt, die den Fall eines Reihengeschäfts regelt. Daher sei eine umfassende Würdigung aller besonderen Umstände erforderlich, die die Feststellung ermöglichen, welche Lieferung die Voraussetzungen einer innergemeinschaftlichen Lieferung erfüllt. Bei der Zuordnung der Beförderung/Versendung seien die Voraussetzungen einer innergemeinschaftlichen Lieferung zu berücksichtigen, da die Umstände, unter denen sie erfüllt seien, von Bedeutung sein könnten. Der Zwischenerwerber könne die Befähigung, wie ein Eigentümer über den Gegenstand zu verfügen, nur dann auf den Zweiterwerber übertragen, wenn er sie zuvor vom Erstverkäufer erhalten habe. Wenn der Ersterwerber, der das Recht, über den Gegenstand wie ein Eigentümer zu verfügen, im Mitgliedstaats der ersten Lieferung erlangt hat, seine Absicht bekundet, diesen Gegenstand in den Bestimmungsmitgliedstaat zu befördern, und mit seiner von dem Bestimmungsmitgliedstaat erteilten USt-IdNr. auftritt, müsste die innergemeinschaftliche Beförderung der ersten Lieferung zugerechnet werden, wenn das Recht, über den Gegenstand wie ein Eigentümer zu verfügen, im Bestimmungsmitgliedstaat der innergemeinschaftlichen Beförderung auf den Zweiterwerber übertragen wurde. Dies sei nicht der Fall, wenn nach der Übertragung des Rechts auf den Erwerber, wie ein Eigentümer über den Gegenstand zu verfügen, dieser dem ersten Lieferer mitgeteilt hat, dass der Gegenstand, bevor er den Liefermitgliedstaat verlassen habe, an einen anderen Unternehmer weiterverkauft werde.

Die bisherigen Urteile des BFH zur Zuordnung der Warenbewegung wiesen in unterschiedliche Richtungen. Nach dem Urteil des V. Senats v. 11.08.2011, V R 3/10 hat der Ersterwerber im Fall des Weiterverkaufs die Möglichkeit, durch Mitteilung oder Verschweigen des Weiterverkaufs die Beförderung oder Versendung der Lieferung an sich oder seiner eigenen Lieferung zuzuordnen. Die Frachtzahlerkonditionen sollen danach unbeachtlich sein (Abgrenzung zum UStAE). Nach dieser Rechtsprechung käme es entscheidend darauf an, über welche Informationen der erste Unternehmer in der Reihe verfügt (auch hierbei wären Buch- und Belegnachweise zu beachten, da diese Rückschlüsse auf die Art der Lieferung zulassen).

Nach dem BFH-Urteil v. 28.05.2013, XI R 11/09 (Folgeurteil zu EuGH, Urt. v. 27.09.2013, C-587/10, VSTR) hat die Zuordnung der Warenbewegung durch umfassende Würdigung des Einzelfalls zu erfolgen (anders als BFH, Urt. v. 11.08.2011,  V R 3/10). Der XI. Senat lehnt die Grundsätze der Entscheidung des V. Senats zu Mitteilen und Verschweigen des Ersterwerbers ab. Einen Rückschluss aus der Transportverantwortlichkeit auf die Verfügungsmacht verneint er. Soweit sich aus Abschn. 3.14 Abs. 7 Satz 1, 4 und 5 UStAE etwas anderes ergebe, sei dies mit der Rechtsprechung des EuGH unvereinbar. Die teilweise vertretene Auffassung, dass § 3 Abs. 6 Satz 6 UStG unionsrechtswidrig sei, teilt der XI. Senat nicht. Nach Ansicht des XI. Senats ist § 3 Abs. 6 Satz 6 UStG unionsrechtskonform auszulegen. Entscheidend sei eine umfassende Würdigung aller Umstände des Einzelfalls. Ergebe sich daraus, dass der Ersterwerber den Gegenstand als Lieferer befördert oder versendet hat, sei die Warenbewegung nicht der ersten Lieferung zuzuordnen. Dabei sei insbesondere der Zeitpunkt von Bedeutung, zu dem der Zweiterwerber Verfügungsmacht an dem Gegenstand erhält. Demzufolge tätige ein Erstverkäufer A dann keine steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung, wenn der Letztabnehmer C bereits Verfügungsmacht an dem Liefergegenstand erlangt habe, bevor die innergemeinschaftliche Beförderung des Gegenstands erfolgt sei. Nicht allein entscheidungserheblich ist nach Ansicht des XI. Senats hingegen, wenn der mittlere Unternehmer dem A bereits vor Übergabe des Liefergegenstands dessen Weiterverkauf mitgeteilt habe.

Auch nach den widerstreitenden Entscheidungen des BFH waren vor dem XI. Senat des BFH noch drei Verfahren anhängig, von denen der XI. Senat des BFH am 25.02.2015 zwei Verfahren entschieden hat (XI R 30/13 und XI R 15/14). Offen ist noch das Revisionsverfahren XI R 12/14 (vorgehend FG Münster v. 16.01.2014, 5 K 3930/10 U). Vor dem V. Senat des BFH sind derzeit, soweit ersichtlich, keine Verfahren zum Reihengeschäft anhängig.

Entscheidung

Der XI. Senat des BFH hat in seinen Urteilen XI R 30/13 und XI R 15/14 deutlich seinen bisherigen Ansatz bestätigt, wonach die Umstände des Einzelfalls maßgeblich sind für die Zuordnung der Warenbewegung. Zwar ist in einem Reihengeschäft mit drei Beteiligten A, B, C, in dem die Ware vom liefernden Unternehmer A aus dem EU-Mitgliedstaat 1 an den letzten Abnehmer C in EU-Mitgliedstaat 2 gelangt, regelmäßig die Lieferung von A an B steuerfrei; anders ist es jedoch, wenn der mittlere Unternehmer B dem letzten Abnehmer C bereits Verfügungsmacht an der Ware verschafft hat, bevor die Ware den Mitgliedstaat 1 verlassen hat. Dies ist anhand aller objektiven Umstände des Einzelfalls und nicht lediglich anhand der Erklärungen des B zu prüfen. In der Sache XI R 15/14 war im Nachhinein nicht mehr feststellbar, wann B dem C die Verfügungsmacht an dem Liefergegenstand verschafft hatte. § 3 Abs. 6 Satz 6 Halbsatz 1 UStG enthalte die gesetzliche Vermutung, dass im Zweifel die erste Lieferung (von A an B) steuerfrei sei. Diese greife im Streitfall. Trotz der bestehenden praktischen Schwierigkeiten sei nach derzeitiger Rechtslage an den genannten Rechtsgrundsätzen festzuhalten. Eventuelle Rechtsänderungen vorzunehmen sei Aufgabe des Gesetz- oder Richtliniengebers.

Darüber hinaus hat der BFH eine für die Unternehmer bestehende Absicherungsmöglichkeit aufgezeigt: Danach kann sich z.B. A von B versichern lassen, dass B die Befugnis, über den Gegenstand der Lieferung wie ein Eigentümer zu verfügen (Verfügungsmacht), nicht auf einen Dritten übertragen wird, bevor der Gegenstand der Lieferung den Mitgliedstaat 1 verlassen hat. Verstößt B gegen diese Versicherung, komme die Gewährung von Vertrauensschutz für A in Betracht und B schulde die Umsatzsteuer in Mitgliedstaat 1 (§ 6a Abs. 4 UStG).

Im Urteil XI R 30/13 geht der BFH noch einen weiteren Schritt über die derzeitigen Regelungen im UStAE hinaus. Entgegen Abschn. 3.14 Abs. 8 Satz 2 UStAE geht der BFH davon aus, dass auch dann, wenn der letzte Abnehmer C eine Spedition mit der Abholung des Liefergegenstands beim Unternehmer A beauftragt, eine Steuerbefreiung der innergemeinschaftlichen Lieferung des A an B möglich ist, wenn C die Verfügungsmacht an dem Liefergegenstand erst erhalten hat, nachdem dieser den Mitgliedstaat 1 verlassen hat. Dies sei bei einer Beförderung durch eine von C beauftragte Spedition zwar eher unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen.

Der BFH teilt auch nicht den Ansatz in Absch. 3.12 Abs. 7 UStAE, wonach § 3 Abs. 6 und 7 UStG den Lieferort und damit zugleich auch den Zeitpunkt der Lieferung regelt, was bedeutet, dass bei einer Beförderungs- oder Versendungslieferung der Zeitpunkt der Lieferung und damit die Verschaffung der Verfügungsmacht mit Beginn der Beförderung oder Versendung anzunehmen sind. Der XI. Senat des BFH meint, weder allein der Besitz befähige den Besitzer noch allein die Beförderung eines Gegenstands den Beförderer dazu, über Gegenstände wie ein Eigentümer zu verfügen. Bei Beförderung oder Versendung von Gegenständen sei die tatsächliche Verschaffung der Verfügungsmacht und ihr tatsächlicher Zeitpunkt zu prüfen, wenn es um die Entscheidung geht, ob die Warenbewegung der Lieferung zugeordnet werden kann oder nicht. Die Frage, ob, wann und wo eine Lieferung erfolgt, d.h. die Befugnis, wie ein Eigentümer über einen Gegenstand zu verfügen, übertragen worden ist, ist anhand des gegebenen Sachverhalts zu beurteilen. Maßgeblich sind die Gesamtumstände des Einzelfalls, d.h. die konkreten vertraglichen Vereinbarungen und deren tatsächliche Durchführung unter Berücksichtigung der Interessenlage der Beteiligten.

Praxishinweis

Für die Rechtsanwender, d.h. die Unternehmen, besteht auch nach den Urteilen weiterer Klärungsbedarf - insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Lieferer A, der als erster in der Reihe besonders im Fokus steht, nur anhand seiner Geschäftsbeziehung zu B prüfen kann, ob er ggf. warenbewegt liefert oder nicht. Außer in Konzernbeziehungen dürfte A den letzten Abnehmer C regelmäßig nicht kennen und somit auch nicht wissen, was B und C vereinbart haben. Bemerkenswert ist daher der Hinweis des BFH, dem Gesetzgeber eine Klarstellung in § 3 Abs. 6 UStG vorzuschlagen. Über die Vermutungsregelung des § 3 Abs. 6 Satz 6 UStG und den Belegnachweis des § 17a Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Nr. 4 UStDV a.F, § 17a Abs. 1 und 2 UStDV i.d.F. ab 01.10.2013 hinaus sollten durch Änderung des UStG oder der UStDV in den Grenzen des Unionsrechts z.B. andere widerlegbare Vermutungen aufgestellt oder in anderer Form die Bedürfnisse der Praxis berücksichtigt werden. Dabei geht es zum einen um die Zuordnung der Warenbewegung im Reihengeschäft selbst. Hier dürfte eine klare Regelung etwa dahingehend erforderlich sein, dass bei Beförderung oder Versendung durch den ersten Unternehmer in der Reihe (also bei dessen Transportverantwortlichkeit) immer die erste Lieferung die warenbewegte Lieferung ist. Bei Transport oder Beauftragung durch den letzten in der Reihe könnte das Gesetz regeln, dass die letzte Lieferung die warenbewegte ist (der BFH ordnet in diesem Fall aufgrund der derzeitigen gesetzlichen Vermutungsregelung die Warenbewegung im Zweifel der ersten Lieferung zu).

Weiter müsste eine gesetzliche Regelung klarstellen, welcher Lieferung im Fall der Beauftragung oder des Transports durch einen mittleren Unternehmer (B) in der Reihe die Warenbewegung zugeordnet werden soll. Wenn prinzipiell an der derzeitigen Vermutungsregelung festgehalten werden sollte, könnte es für die Praxis hilfreich sein, wenn B gegenüber A unter folgenden Voraussetzungen als Lieferer anzusehen ist: Er tritt unter der USt-IdNr. des Mitgliedstaates auf, in der die Beförderung/Versendung beginnt, er hat nach den mit A (nicht C) getroffenen Vereinbarungen Gefahr und Kosten der Beförderung/Versendung übernommen und er hat A vor Beginn der Beförderung/Versendung den Weiterverkauf des Liefergegenstands mitgeteilt. Ist eine der Voraussetzungen nicht erfüllt, sollte A (aus praktischen Vereinfachungsgründen) davon ausgehen können, dass er eine warenbewegte Lieferung ausführt. Für B folgt in diesem Fall auch erkennbar, dass er eine ruhende Lieferung tätigt.

Aufgrund der Tatsache, dass der XI. Senat sich in seinem Urteil XI R 15/14 auffällig intensiv mit dem Urteil des FG Münster v. 16.01.2014, 5 K 3930/10, EFG 2014, 682 – ablehnend – auseinandersetzt, ist davon auszugehen, dass er auch im Revisionsverfahren XI R 12/14, in dem es um eine Ausfuhrlieferung im Reihengeschäft geht und in dem das FG Münster Vorinstanz ist, im Ergebnis, wie vorliegend auch, die Zuordnung der Warenbewegung nicht (allein) davon abhängig macht, ob der Zwischenerwerber (B) dem Ausgangslieferanten (A) mitgeteilt hat, dass er die Ware bereits vor der Beförderung oder Versendung an einen Endabnehmer (C) weiterverkauft hat.