BFH zur Verschaffung der Verfügungsmacht im Reihengeschäft

Anmerkung zu: BFH, Urt. v. 09.09.2015, XI R 21/13

Praxisproblem

Nach § 3 Abs. 1 UStG setzt eine umsatzsteuerliche Lieferung voraus, dass die Verfügungsmacht an einem Gegenstand verschafft wird. Die Verschaffung der Verfügungsmacht beinhaltet den von den Beteiligten endgültig gewollten Übergang von wirtschaftlicher Substanz, Wert und Ertrag eines Gegenstands vom Leistenden auf den Leistungsempfänger. Der Abnehmer muss faktisch in der Lage sein, mit dem Gegenstand nach Belieben zu verfahren, insbesondere ihn wie ein Eigentümer zu nutzen und veräußern zu können. Keine Lieferung, sondern eine sonstige Leistung ist danach die entgeltlich eingeräumte Bereitschaft zur Verschaffung der Verfügungsmacht. Die Verschaffung der Verfügungsmacht ist ein Vorgang vorwiegend tatsächlicher Natur, der in der Regel mit dem bürgerlich-rechtlichen Eigentumsübergang verbunden ist, aber nicht notwendigerweise verbunden sein muss. Zu Ausnahmefällen, in denen der Lieferer zivilrechtlich nicht Eigentümer des Liefergegenstands ist und darüber hinaus beabsichtigt, den gelieferten Gegenstand vertragswidrig nochmals an einen anderen Erwerber zu liefern, vgl. BFH, Urt. v. 08.09.2011, V R 43/10, BStBl. II 2014, 203.

Sachverhalt

In dem BFH-Verfahren XI R 21/13 war streitig, ob eine Lieferung i.S.v. § 3 Abs. 1 UStG notwendigerweise voraussetzt, dass der Erwerber eine unmittelbare Zugriffsmöglichkeit auf den gelieferten Gegenstand erlangt. Im Ausgangsfall hatte die Klägerin den Vorsteuerabzug aus dem Erwerb einer Photovoltaikanlage begehrt. Bereits im Zeitpunkt der Bestellung der Photovoltaikanlage durch die Klägerin stand fest, dass die Anlage an eine bestimmte Firma verpachtet wurde. Der am gleichen Tag mit dieser Firma unterzeichnete und eingangs auf den Anlagenkauf zur Verpachtung verweisende Pachtvertrag enthielt die Regelung, dass der Verpächter kein Zugriffsrecht und keine Entscheidungsbefugnis hinsichtlich der unmittelbar an den Pächter gelieferten Anlage erhält, der Pächter für deren Wartung, Pflege und Erneuerung zuständig ist und nach Beendigung des Pachtverhältnisses die Anlage an den Pächter oder einen von diesen zu benennenden Dritten zu einem bereits bestimmten Preis zu verkaufen ist. Das FG München (Urt. v. 26.01.2012, 14 K 2222/11, EFG 2012, 1702) hatte in diesem Fall entschieden, es sei keine Lieferung an die Klägerin erfolgt. Selbst wenn man – trotz vorhandener Zweifel – davon ausgehe, dass die von dem Verkäufer der Anlage (der diese nicht als Gesamtanlage, sondern in ihren zuvor von einer anderen Firma erworbenen Einzelteilen verkauft hatte) die Verfügungsmacht über die Photovoltaikanlage gehabt habe, sei der Klägerin selbst jedenfalls keine Verfügungsmacht an dieser Anlage eingeräumt worden. Der Vorsteuerabzug für die Photovoltaikanlage scheide mangels Verfügungsmacht der Klägerin an der Anlage aus.

Entscheidung

Der BFH hat entschieden, dass eine Lieferung i.S.v. § 3 Abs. 1 UStG nicht notwendigerweise voraussetzt, dass der Erwerber eine unmittelbare Zugriffsmöglichkeit auf den gelieferten Gegenstand erlangt. Dies ergebe sich auch nicht aus der bisherigen Rechtsprechung von EuGH und BFH.

Nach dem Urteil sieht bereits der Gesetzeswortlaut von § 3 Abs. 1 UStG vor, das der liefernde Unternehmer „den Abnehmer oder in dessen Auftrag einen Dritten befähigt, im eigenen Namen über einen Gegenstand zu verfügen“. Diese Bestimmung sieht damit vor, dass eine Lieferung durch eine direkte Auslieferung an einen Dritten (z.B. Zweiterwerber) bewirkt werden kann. In diesem Fall hat der Abnehmer selbst keine unmittelbare Zugriffsmöglichkeit auf den Liefergegenstand. Aus der in der Literatur zu entnehmenden Aussage, dass es für eine umsatzsteuerrechtliche Verfügung „genügt“, tatsächlich auf den Liefergegenstand einzuwirken, ergibt sich nach dem Urteil nicht, dass ein „tatsächliches Einwirken auf den Gegenstand“ notwendige Voraussetzung für eine Lieferung wäre.

Praxishinweis

Das Urteil bestätigt prinzipiell, dass es in einem Reihengeschäft eine warenbewegte und im Übrigen nur ruhende Lieferungen geben kann. Gelangt der Liefergegenstand bei einem Reihengeschäft unmittelbar vom ersten Lieferer an den letzten Abnehmer und holt der letzte Abnehmer die Ware beim ersten Lieferer ab, erlangt der erste Abnehmer grundsätzlich zu keinem Zeitpunkt eine unmittelbare Zugriffsmöglichkeit auf den Liefergegenstand, obwohl zwei Lieferungen vorliegen (vgl. zu einem solchen Sachverhalt z.B. BFH, Urt. v. 25.02.2015, XI R 30/13, BFH/NV 2015, 769). Eine Lieferung kann auch dadurch bewirkt werden, dass der Liefergegenstand in Vollzug einer auf Eigentumsübertragung gerichteten Vereinbarung durch Einräumung mittelbaren Besitzes übergeben wird (vgl. BFH, Urt. v. 08.09.2011, V R 43/10, BStBl. II 2014, 203). Auch in diesem Fall hat der Erwerber keine unmittelbare Zugriffsmöglichkeit auf den gelieferten Gegenstand.

Fraglich ist, wie dieses Urteil noch ausstehende BFH-Rechtsprechung im Zusammenhang mit Konsignationslagern beeinflusst. Das FG Hessen hat mit Urteil v. 25.08.2015, 1 K 2519/10, EFG 2015, 2229 entschieden, dass Lieferungen eines spanischen Unternehmers in ein deutsches Konsignationslager nicht erst bei der Entnahme aus dem Lager (als steuerbare Inlandslieferungen, denen ein innergemeinschaftliches Verbringen vorausgegangen ist) der Umsatzsteuer unterliegen, sofern bei der Einlieferung in das Lager bereits verbindliche Bestellungen des Abnehmers vorlagen. In diesem Fall lägen in Spanien steuerbare innergemeinschaftliche Lieferungen vor. Diese FG-Entscheidung steht im Widerspruch zur Verwaltungsauffassung gem. Abschn. 1a.2 Abs. 6 UStAE. Danach ist beim Verbringen von Waren in ein Konsignationslager grundsätzlich von einer nicht nur vorübergehenden Verwendung und damit von einem innergemeinschaftlichen Verbringen mit einer anschließend im Inland umsatzsteuerbaren Lieferung auszugehen, wenn der liefernde Unternehmer den Liefergegenstand mit der konkreten Absicht in den Bestimmungsmitgliedstaat verbringt, ihn dort (unverändert) weiterzuliefern.

Das Revisionsverfahren ist beim BFH unter dem Aktenzeichen V R 31/15 anhängig. Auch in diesem Verfahren dürfte entscheidend sein, welche Bedeutung eine etwaige tatsächliche Zugriffsmöglichkeit auf einen Liefergegenstand hat. Die Parteien können vereinbaren, dass erst bei Abruf der Ware aus einem Konsignationslager durch den Abnehmer, also bei Entnahme, ein Kaufvertrag über die entnommene Ware bei gleichzeitiger Lieferung durch den Lieferanten und Erwerb durch den Abnehmer zustande kommt. Die Vertragsparteien können auch einen unbedingten Kaufvertrag über den Warenbestand des Lagers abschließen, z.B. mit gleichzeitiger Eigentumsvorbehaltsabrede und Stundung des Kaufpreises bezogen auf den Zeitpunkt der Entnahmen. Welche Gestaltungsalternative vorliegt, ist durch Auslegung des zugrunde liegenden Lagervertrags zu ermitteln.

Entscheidend dürfte sein, wann der Abnehmer solchen Fällen Verfügungsmacht erlangt hat. Hierzu könnte es aufgrund der wechselseitigen Beziehung zwischen einer innergemeinschaftlichen Lieferung auf Seiten des Lieferers und der nachfolgenden Besteuerung des innergemeinschaftlichen Erwerbs auf Seiten des Abnehmers (innergemeinschaftliche Lieferung und innergemeinschaftlicher Erwerb müssen denselben Gegenstand betreffen) erforderlich sein, darauf abzustellen, ob der Abnehmer im Zeitpunkt des Beginns der Beförderung oder Versendung der Ware im übrigen Gemeinschaftsgebiet in ein Konsignationslager bereits tatsächliche Verfügungsmacht an der Ware erhalten hat. Denn die Wechselwirkung zwischen einer innergemeinschaftlichen Lieferung und dem ihr nachfolgenden innergemeinschaftlichen Erwerb (nach dem EuGH-Urteil v. 27.09.2007, Teleos, C-409/04, Rz. 23, „[sind] die innergemeinschaftliche Lieferung eines Gegenstands und sein innergemeinschaftlicher Erwerb […] in Wirklichkeit ein und derselbe wirtschaftliche Vorgang, obwohl dieser sowohl für die an dem Geschäft Beteiligten als auch für die Finanzbehörden der betreffenden Mitgliedstaaten unterschiedliche Rechte und Pflichten begründet“) impliziert eine Nämlichkeit des Liefergegenstandes und des Erwerbsgegenstandes und damit (insbesondere aufgrund der Voraussetzung für das Vorliegen eines innergemeinschaftlichen Erwerbs, dass der Liefergegenstand aus einem anderen Mitgliedstaat in den Bestimmungsstaat gelangt ist) das Erfordernis, dass der Abnehmer der innergemeinschaftlichen Lieferung die tatsächliche und nicht lediglich juristische Verfügungsmacht an dem Gegenstand verschafft bekommen hat.