EuGH zur Steuerbefreiung für eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen

Anmerkung zu: EuGH, Urt. v. 21.01.2016, C-335/14

Praxisproblem

Altenheime sind Einrichtungen, in denen ältere Menschen, die grundsätzlich nicht pflegebedürftig, aber zur Führung eines eigenen Hausstands außerstande sind, Unterkunft, Verpflegung und Betreuung erhalten. Die Inanspruchnahme der Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. l UStG für Betreuungs- oder Pflegeleistungen an hilfsbedürftige Personen durch private Altenheime setzt nach Abschn. 4.16.4 Abs. 2 UStAE grundsätzlich voraus, dass die Leistungen im vorangegangenen Kalenderjahr in 25 % der Fälle von den gesetzlichen Trägern der Sozialversicherung oder der Sozialhilfe oder der für die Durchführung der Kriegsopferversorgung zuständigen Versorgungsverwaltung einschließlich der Träger der Kriegsopferfürsorge ganz oder zum überwiegenden Teil vergütet worden sind.

Beim Betrieb eines Altenwohnheims ist nach Abschn. 4.16.4 Abs. 5 UStAE grundsätzlich nur von einer nach § 4 Nr. 12 UStG steuerfreien Vermietungsleistung auszugehen. Wird mit den Bewohnern eines Altenwohnheims ein Vertrag über die Aufnahme in das Heim geschlossen, der neben der Wohnraumüberlassung auch Leistungen zur Betreuung oder Pflege vorsieht, wobei die Betreuungs- und Pflegeleistungen die Wohnraumüberlassung aber nicht überlagern, soll es sich um zwei getrennt voneinander zu betrachtende Leistungen handeln. Auch in diesem Fall ist die Wohnraumüberlassung grundsätzlich nach § 4 Nr. 12 UStG steuerfrei. Werden daneben eigenständige Leistungen der Betreuung oder Pflege erbracht, können diese unter den Voraussetzungen des § 4 Nr. 16 UStG steuerfrei sein

Sachverhalt

Das belgische Vorabentscheidungsersuchen betraf die Steuerbefreiung für eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Leistungen durch anerkannte Einrichtungen gem. Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der 6. EG-Richtlinie (seit 01.01.2007: Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL). Das vorlegende Gericht wollte wissen, ob die von einer „Einrichtung für betreutes Wohnen“ i.S.d. belgischen Rechts erbrachten Leistungen nach dieser Vorschrift steuerbefreit sind.

Die Klägerin betreibt eine private „Einrichtung für betreutes Wohnen“ für Senioren i.S.d. belgischen Rechts, die definiert sind als „eine Einrichtung (unabhängig von ihrer Bezeichnung) zur Beherbergung von Senioren im Alter von mindestens sechzig Jahren, die dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben und gemeinschaftliche Leistungen der Familien- und Haushaltsfürsorge, Hilfe im Alltagsleben und gegebenenfalls Krankenpflege oder sonstige Leistungen des Gesundheitswesens in Anspruch nehmen“. Diese Einrichtungen unterscheiden sich von „Altersheimen“, bedürfen einer behördlichen Zulassung und sind in Belgien an festgelegte Preise unter Aufsicht des Wirtschaftsministeriums gebunden.

Die Klägerin stellt in ihrer Einrichtung Wohnungen für ein oder zwei Personen zur Verfügung. Darüber hinaus bietet sie den Mietern verschiedene Leistungen entgeltlich an, die nicht auf die Bewohner der Einrichtung beschränkt sind (Restaurant mit Bar, Friseur- und Schönheitssalon, Physiotherapieraum, Ergotherapie, Wäscherei, Ambulanz und Blutabnahmedienst und Arztpraxis). Die Klägerin erhält keine öffentlichen Mittel und ihre Kunden nehmen keine öffentliche Förderung oder Kostenbeteiligung in Anspruch.

Die belgische Steuerverwaltung behandelte die Klägerin als anerkannte Einrichtung und alle von der Einrichtung für betreutes Wohnen erbrachten Umsätze als steuerbefreit und versagte den Vorsteuerabzug der auf den Bau der Einrichtung entfallenen Vorsteuern. Die Klägerin berief sich dagegen auf die Steuerpflicht ihrer Leistungen, um in den Genuss des Vorsteuerabzugs zu kommen.

Entscheidung

Der EuGH hat entschieden, wenn der Unternehmer keine Einrichtung des öffentlichen Rechts i.S.v. Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der 6. EG-Richtlinie ist, kann seine Umsatztätigkeit nur dann nach dieser Vorschrift steuerbefreit sein, wenn der Unternehmer unter den Begriff „andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen“ im Sinne der Bestimmung fällt. Der EuGH bestätigt seine frühere Rechtsprechung (vgl. EuGH, Urt. v. 15.11.2012, C-174/11, Zimmermann), dass die Anerkennung als soziale Einrichtung grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten ist. Hierbei haben die Mitgliedstaaten mehrere Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Zu ihnen können das Bestehen spezifischer Vorschriften gehören – seien es nationale oder regionale, Rechts- oder Verwaltungsvorschriften, Steuervorschriften oder Vorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit –, das mit den Tätigkeiten des Unternehmers verbundene Gemeinwohlinteresse, die Tatsache, dass andere Unternehmer mit gleichen Tätigkeiten bereits in den Genuss einer ähnlichen Anerkennung kommen, und, dass die Kosten der fraglichen Leistungen unter Umständen zum großen Teil von Krankenkassen oder anderen Einrichtungen der sozialen Sicherheit übernommen werden.

Nach den weiteren Urteilsgründen ist auch zu berücksichtigen, dass Einrichtungen für betreutes Wohnen wie im Vorlagefall an unter der Aufsicht des zuständigen Ministeriums festgelegte Preise gebunden sind. Dass die Kosten der Dienstleistungen ggf. zum großen Teil von Krankenkassen oder Einrichtungen der sozialen Sicherheit übernommen werden, kann einen der Gesichtspunkte darstellen, die bei der Bestimmung, ob der betreffenden Einrichtung ein sozialer Charakter zukommt, zu berücksichtigen sind. Doch ist dies nur ein Gesichtspunkt unter vielen. Dass keine öffentliche Kostenbeteiligung gewährt wird, schließt für sich genommen eine Anerkennung nicht aus, weil diese unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände des Einzelfalls zu beurteilen ist.

Zum Wortlaut von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der 6. EG Richtlinie führt der EuGH erstmals aus, dass die Dienstleistungen der Altenheime ausdrücklich zu den eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundenen Umsätze gehören und damit unter die Befreiung fallen. Dazu gehören nach der Entscheidung auch Altenheime, wie Einrichtungen für betreutes Wohnen, die Senioren im Alter ab sechzig Jahren eine Unterkunft und daneben verschiedene Dienstleistungen der Unterstützung und Betreuung zur Verfügung stellen. Zum einen ist die Dienstleistung der Zurverfügungstellung von Wohnungen, unabhängig davon, ob diese Wohnungen von einem Altenheim oder einer Einrichtung für betreutes Wohnen zur Verfügung gestellt werden, mehrwertsteuerlich gleich zu behandeln. Zum anderen sind die Dienstleistungen der Unterstützung und Betreuung, die Einrichtungen für betreutes Wohnen nach der nationalen Regelung anbieten müssen, soweit sie denen entsprechen, die Altenheime aufgrund dieser Regelung anbieten müssen, mit diesen ebenfalls mehrwertsteuerlich gleich zu behandeln.

Daher fällt nach dem Urteil aus dem Bündel der Dienstleistungen, die von einer Einrichtung für betreutes Wohnen wie der im Ausgangsverfahren erbracht werden, die Zurverfügungstellung von geeigneten Wohnungen für Senioren unter Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der 6. EG-Richtlinie. Die anderen Dienstleistungen fallen grundsätzlich auch unter die Steuerbefreiung, wenn diese Leistungen, die eine Einrichtung für betreutes Wohnen gemäß der nationalen Regelung anbieten muss, insbesondere bezwecken, die Unterstützung und Betreuung von Senioren sicherzustellen, und denjenigen entsprechen, die auch Altenheime nach diesen Regelungen anbieten müssen. Das gilt auch für die Fälle, in denen der Betreiber der Einrichtung keine öffentliche Förderung erhält. Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der 6. EG-Richtlinie stellt nach dem Urteil auf das Wesen der Umsätze und die Eigenschaft des leistenden Unternehmers ab und nicht auf die spezifische Art der Finanzierung des Unternehmers oder die an diesen gezahlte Gegenleistung.

Praxishinweis

Das deutsche Umsatzsteuerrecht ist von dem Vorlageersuchen unmittelbar betroffen. Gemäß § 4 Nr. 16 UStG unterliegen neben staatlichen Einrichtungen nur solche Seniorenbetreuungseinrichtungen der Steuerbefreiung, die nach Sozialrecht anerkannt sind und deren Leistungen demzufolge von den Sozialversicherungskassen getragen werden bzw. deren Kosten zumindest teilweise von den Sozialversicherungskassen getragen werden.

Für die Anerkennung des sozialen Charakters von nichtöffentlichen Einrichtungen i.S.d. Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie verfügen die Mitgliedstaaten über ein Ermessen. Das im UStG enthaltene Kriterium der Kostentragung durch die Sozialversicherungskassen hatte der EuGH bereits mit Urteil v. 15.11.2012, C-174/11, Zimmermann grundsätzlich anerkannt. § 4 Nr. 16 UStG (und auch § 4 Nr. 18) UStG setzt zudem voraus, dass hilfsbedürftigen Personen Pflege- bzw. Betreuungsleistungen erbracht werden.

Neu an der Entscheidung ist, dass auch hinsichtlich der Zurverfügungstellung von Wohnungen an alte Menschen sowie weiterer Leistungen grundsätzlich anzunehmen ist, dass es sich hierbei um „eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen“ i.S.v. Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der 6. EG-Richtlinie handelt. Bisher hatte der EuGH noch keine Definition dieses Begriffs vorgenommen. In dem Urteil v. 07.09.1999, C-216/97, Gregg hatte der EuGH entschieden, dass die Leistungen eines Pflegeheimes nach dieser Vorschrift steuerfrei sein können. Im Urteil v. 10.09.2002, C-141/00, Kügler hatte er festgestellt, dass die Leistungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung durch eine mildtätige Zwecke verfolgende Gesellschaft gegenüber Personen, die wegen ihres körperlichen Zustandes auf die Hilfe anderer angewiesen oder wirtschaftlich hilfsbedürftig sind, unter die Befreiung fallen.

Aus dem jetzigen Vorlageersuchen war nicht erkennbar, ob es sich bei den Bewohnern der von der Klägerin betriebenen Einrichtung um hilfsbedürftige Personen handelt und tatsächlich Pflege- bzw. Betreuungsleistungen erbracht werden. Dennoch hat der EuGH jedenfalls die Zurverfügungstellung von Wohnraum in Einrichtungen für betreutes Wohnen und damit verbundene Leistungen als Sozialleistungen nach Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der 6. EG-Richtlinie eingeordnet. Für bestimmte andere entgeltliche Dienstleistungen, die fakultativ sowohl an die Bewohner der Einrichtung für betreutes Wohnen als auch an andere Personen erbracht werden (z.B. die Möglichkeit der Inanspruchnahme eines Restaurants mit Bar, eines Friseur- und Schönheitssalons, eines Physiotherapieraums, der Ergotherapie, einer Wäscherei, einer Ambulanz mit Blutentnahmedienst und einer Arztpraxis) gilt, dass die Steuerbefreiung dann nicht anwendbar ist, wenn die Leistungen zur Ausübung der steuerfreien Überlassung von Wohnraum nicht unerlässlich sind. Das muss das nationale Gericht prüfen. Zu den unerlässlichen Tätigkeiten könnten nach der Entscheidung jedoch die Reinigung der Privatwohnungen und die Möglichkeit eines Wäschedienstes für die Bewohner gehören.

Aus der Entscheidung folgt, dass die Differenzierung in Abschn. 4.16.4 Abs. 5 UStAE beim Betrieb von Altenwohnheimen in eine Steuerbefreiung für eine Wohnraumüberlassung nach § 4 Nr. 12 UStG und ggf. eine Steuerbefreiung für Betreuungs- und Pflegeleistungen nach § 4 Nr. 16 UStG so ohne weiteres wohl nicht mehr haltbar ist, sondern auch die Wohnraumüberlassung unter den Voraussetzungen von § 4 Nr. 16 UStG zu beurteilen ist, wenn diese bei Altenheimen in der Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 16 UStG untergeht. Das hieße aber, dass die Voraussetzungen der Steuerbefreiung der Wohnraumüberlassung durch Altenwohnheime (nach § 4 Nr. 16 UStG) grundsätzlich strenger wären als im Falle der Annahme einer Vermietungsleistung.