BFH zur AdV von nach § 27 Abs. 19 UStG geänderten Umsatzsteuerbescheiden

Anmerkung zu: BFH, Beschl. v. 17.12.2015, XI B 84/15

Praxisproblem

§ 27 Abs. 19 UStG enthält eine Übergangsregelung für vor dem 15.02.2014 ausgeführte Bauleistungen, wenn der Leistungsempfänger entsprechend der BFH-Rechtsprechung (BFH, Urt. v. 22.08.2013, V R 37/10, BStBl. II 2014, 128) geltend macht, er sei nicht Steuerschuldner (ausführliche Erläuterungen dazu enthält das BMF-Schreiben v. 31.07.2014 – siehe auch die Vorausgaben dieses Newsletters). Der leistende Unternehmer soll in diesen Fällen die gesetzlich bei ihm als leistenden Unternehmer entstandene und von ihm geschuldete Umsatzsteuer zivilrechtlich gegenüber dem Leistungsempfänger zusätzlich zum Netto-Entgelt geltend machen können. Ein Vertrauensschutztatbestand wird verneint.

Das für den leistenden Unternehmer zuständige Finanzamt hat in diesen Fällen auf Antrag zuzulassen, dass der leistende Unternehmer den ihm gegen den Leistungsempfänger zustehenden Anspruch auf (nachträgliche) Zahlung der gesetzlich entstandenen Umsatzsteuer dem Finanzamt abtritt, wenn die Annahme der Steuerschuld des Leistungsempfängers im Vertrauen auf eine Verwaltungsanweisung beruhte. Diese Abtretung erfolgt nach Maßgabe des Zivilrechts durch Angebot seitens des leistenden Unternehmers, mit dem er sich verpflichtet, bei der Durchsetzung des Anspruchs mitzuwirken, und Annahme durch das Finanzamt. Die Mitwirkungspflicht des leistenden Unternehmers bezieht sich hierbei zuvorderst auf den Nachweis der Richtigkeit und den Bestand seiner (abgetretenen) Forderung sowie die Wirksamkeit der Abtretung.

Die vorgenannte Abtretung wirkt an Zahlungs statt und führt damit zum Erlöschen des Umsatzsteueranspruchs (§ 47 AO), wenn

  • der leistende Unternehmer dem Leistungsempfänger eine erstmalige oder geänderte Rechnung mit offen ausgewiesener Umsatzsteuer ausstellt,
  • die Abtretung an das Finanzamt wirksam bleibt,
  • dem Leistungsempfänger diese Abtretung unverzüglich mit dem Hinweis angezeigt wird, dass eine Zahlung an den leistenden Unternehmer keine schuldbefreiende Wirkung mehr hat, und
  • der leistende Unternehmer seiner Mitwirkungspflicht nachkommt.

Die Finanzbehörden können gegen den Umsatzsteuererstattungsanspruch (oder andere Steuererstattungsansprüche oder Steuervergütungsansprüche) des Leistungsempfängers mit der vom leistenden Unternehmer durch Abtretung erworbenen zivilrechtlichen Forderung grundsätzlich ab deren Fälligkeit aufrechnen (§ 226 AO i.V.m. §§ 387 bis 396 BGB).

Auch eine ggf. verjährte Forderung kann zivilrechtlich abgetreten werden. In derartigen Fällen wird jedoch im Einzelfall geprüft, ob das Angebot der Abtretung durch das Finanzamt angenommen wird und für den leistenden Unternehmer diese Abtretung dann gem. § 27 Abs. 19 Satz 3 und 4 UStG auch an zahlungsstatt wirkt. Hier besteht ein Ermessensspielraum für das Finanzamt, im Einzelfall zu entscheiden, ob der leistende Unternehmer schutzwürdige Interessen i. S. d. § 27 Abs. 19 Satz 3 und 4 UStG vorträgt.

In Reaktion auf die Forderungen der Bauträger als Leistungsempfänger muss die Finanzverwaltung prüfen, ob die auf die Bauleistungen zweifellos entstandene Umsatzsteuer nun von den leistenden Unternehmern nachgefordert werden kann. Die leistenden Unternehmer hatten regelmäßig im Vertrauen auf den Übergang der Steuerschuldnerschaft nach § 13b UStG zunächst dem Leistungsempfänger nur den Nettobetrag in Rechnung gestellt. Nun werden die leistenden Unternehmer über § 27 Abs. 19 UStG nachträglich als Steuerschuldner in Anspruch genommen.

In der Rechtsprechung und auch in der Literatur ist umstritten, ob § 27 Abs. 19 UStG, der ausdrücklich die Vertrauensschutzregelung (für in der Vergangenheit liegende Sachverhalte) in § 176 AO aushebelt, verfassungskonform ist. Ungeklärt ist insbesondere die Rechtmäßigkeit von „rückwirkenden“ Festsetzungen von Umsatzsteuer bei den leistenden Unternehmern, die bisher für ihre Bauleistungen unter Anwendung der Verlagerung der Steuerschuldnerschaft auf den Leistungsempfänger „netto“ fakturiert haben. Hier spielen die Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes gem. § 176 AO eine besondere Rolle. Das Prinzip des Vertrauensschutzes ist Ausfluss des verfassungsrechtlichen Rechtsstaatsprinzips und des daraus abzuleitenden Erfordernisses der Rechtssicherheit. Das Vertrauensschutzprinzip ist zwar Grundlage der Regelung des § 176 AO, seine Anwendung ist darin aber nicht abschließend geregelt.

Nach § 176 Abs. 2 AO darf bei der Korrektur eines Steuerbescheides nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, dass eine allgemeine Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung, einer obersten Bundes- oder Landesbehörde von einem obersten Gerichtshof des Bundes als nicht mit dem geltenden Recht in Einklang stehend bezeichnet worden ist. Für die Anwendbarkeit des § 176 Abs. 2 AO ist es nicht erforderlich, dass eine höchstrichterliche Entscheidung eine allgemeine Verwaltungsvorschrift ausdrücklich als mit dem geltenden Recht nicht übereinstimmend bezeichnet. Es genügt, dass dies sinngemäß zum Ausdruck gebracht wird (vgl. BFH, Urt. v. 28.9.1987, VIII R 154/86, BStBl. II 1988, 40). Ein bestimmtes Rechtsproblem muss nach der (zeitlich vorausgegangenen) allgemeinen Verwaltungsvorschrift auf andere (für den Steuerpflichtigen günstigere) Weise zu lösen sein, als nach der (späteren) Gerichtsentscheidung. Die Wirkung des § 176 Abs. 2 AO wird aber gerade durch § 27 Abs. 19 UStG in den entsprechenden Fällen gesetzlich außer Kraft gesetzt.

Nach Auffassung des FG Münster (Beschlüsse v. 12.08.2015, 15 V 2153/15 U, EFG 2015, 1863; 5 V 2152/15 U, EFG 2015, 2129), des FG Berlin-Brandenburg (Beschluss v. 03.06.2015, 5 V 5026/15, EFG 2015, 1490) und des FG Niedersachsen (Beschlüsse v. 03.07.2015, 16 V 95/15, MwStR 2015, 655; v. 20.07.2015, 16 V 132/15 und v. 20.07.2015, 16 V 135/15) ist es ernstlich zweifelhaft, ob die rückwirkende Änderung der Steuerfestsetzung beim leistenden Unternehmer unter Suspendierung des aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abgeleiteten Vertrauensschutzes gegen das Verbot der Rückwirkung von Gesetzen verstößt.

Dagegen haben das FG Nürnberg (Beschluss v. 26.08.2015, 2 V 1107/15, EFG 2015, 2135), das FG Düsseldorf (Beschluss v. 31.08.2015, 1 V 1486/15 A(U), EFG 2015, 2131), das FG Hessen (Beschluss v. 13.10.2015, 1 V 1483/15, juris) sowie das FG Sachsen (Beschluss v. 22.09.2015, 4 V 1014/15, juris) ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit verneint. Das FG Köln hat es in AdV-Beschluss zu § 27 Abs. 19 UStG offengelassen, ob es sich den verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Einführung dieser Regelung insbesondere wegen Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot anschließt (FG Köln, Beschl. v. 01.09.2015, 9 V 1376/15, EFG 2015, 2005).

Sachverhalt

Im Ausgangsfall des BFH-Beschlusses v. 17.12.2015, XI B 84/15 lieferte und verlegte die Antragstellerin, eine GmbH, u.a. Estrich, Parkett, Laminat und Teppichboden. Die in den Streitjahren (2011 bis 2012) sowie 2013 an andere Unternehmer erbrachten Leistungen rechnete die GmbH jeweils ohne Umsatzsteuer ab. Die betreffenden Rechnungen enthielten den Hinweis darauf, dass nach § 13b UStG in der bis zum 30.09.2014 geltenden Fassung (a.F.) der Auftraggeber die Umsatzsteuer in Höhe von 19 % schulde. Die Umsatzsteuererklärungen für die Streitjahre gab die Antragstellerin am 05.09.2012 (2011), am 29.05.2013 (2012) und am 05.12.2014 (2013) ab. Die Bauträger, an die die Klägerin geleistet hatte, machten Steuererstattungsansprüche geltend. Sie sind der Ansicht, keine Steuerschuldner i.S.d. § 13b UStG a.F. zu sein. Das FA setzte danach bei der GmbH die Umsatzsteuer für die Jahre 2011 bis 2013 neu fest. Das FA ist der Auffassung, dass die bisherigen Umsätze gem. § 13b UStG a.F. nach Maßgabe der von den jeweiligen Bauträgern geltend gemachten Erstattungen gemindert und dementsprechend die Umsätze der Antragstellerin zu erhöhen seien. Die GmbH beantragte AdV.

Das FG Münster hatte in der Vorinstanz (FG Münster, Beschl. v. 21.09.2015, V 2152/15 U, EFG 2015, 2129) entschieden, es bestünden an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Umsatzsteuer-Änderungsbescheide für 2011 und 2012 ernstliche Zweifel i.S.v. § 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Es sei zweifelhaft, ob die den Vertrauensschutz nach § 176 Abs. 2 AO, dessen Voraussetzungen nach summarischer Prüfung im Streitfall insoweit vorlägen, suspendierende Vorschrift des § 27 Abs. 19 UStG verfassungsrechtlichen Grundsätzen genüge. Zweifelhaft sei, ob die rückwirkende Änderung der Steuerfestsetzung beim leistenden Unternehmer unter Suspendierung des aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abgeleiteten Vertrauensschutzes gegen das Verbot der Rückwirkung von Gesetzen verstoße. Vorliegend greife § 27 Abs. 19 UStG in die im Zeitpunkt seiner Verkündung bereits entstandene Steuerschuld für 2011 und 2012 nachträglich ein, so dass eine unzulässige echte Rückwirkung jedenfalls nicht ausgeschlossen erscheine.

Dagegen bestünden bei summarischer Prüfung hinsichtlich des Umsatzsteuer-Änderungsbescheids für 2013 keine ernstlichen Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit. Die Erklärung für 2013 der Antragstellerin sei erst nach dem 14.02.2014 beim FA eingegangen. Zwar betreffe die Änderung der Verwaltungsauffassung hinsichtlich der Steuerfestsetzung bei der Antragstellerin abgeschlossene Werkleistungsvorgänge. Ein schützenswertes Vertrauen des Steuerpflichtigen habe der Gesetzgeber aber nur unter den Voraussetzungen des § 176 AO geregelt, die für das Streitjahr 2013 nicht vorlägen.

Entscheidung

Der BFH hat entschieden, nach den Maßstäben des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO bestünden im Streitfall ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Umsatzsteuer-Änderungsbescheide für 2011 und 2012.

Praxishinweis

Angesichts der Entscheidung des BFH über die Aussetzung der Vollziehung (AdV) dürfte in vergleichbaren Fällen bundesweit den bauleistenden Unternehmern auf Antrag AdV gewährt werden. Die Finanzgerichte dürften nach dem BFH-Beschluss wohl keine AdV-Anträge mehr ablehnen. Fraglich ist, ob die Finanzverwaltung die AdV jetzt flächendeckend von Amts wegen anordnet. Hierbei dürfte zu beachten sein, um welches Streitjahr es sich handelt. Von den Finanzgerichten wurden bisher Anträge auf Aussetzung der Vollziehung abgelehnt, in denen die Umsatzsteuererklärung nach Veröffentlichung des BFH-Urteils v. 22.08.2013, V R 37/10 (veröffentlicht durch BFH am 27.11.2013 im BStBl. II 2014, 128, am 14.02.14 (zeitgleich mit dem BMF-Schreiben v. 05.02.2014)) beim Finanzamt einging.

In diesen Fällen sollen sich keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Umsatzsteuerbescheide ergeben, weil § 176 Abs.2 AO den Steuerpflichtigen keinen Vertrauensschutz zukommen lassen kann (u.a. FG Niedersachsen, Beschl. v. 20.07.2015, 16 V 132/15). Der BFH hat in seinem Beschluss v. 17.12.2015 ausdrücklich auch nicht über eine mögliche AdV für die Umsatzsteuer für 2013 entschieden. Die AdV könnte daher weiterhin in den Fällen abgelehnt werden, wenn die Umsatzsteuererklärungen erst nach Veröffentlichung des BFH-Urteils beim Finanzamt eingegangen sind. In den übrigen Fällen dürfte AdV zu gewähren sein.

Fraglich ist, wie sich der BFH in der Hauptsache-Entscheidung positioniert. Hier lässt zumindest die Rz. 32 des Beschlusses alles offen: „Die Entscheidung, ob – was der erkennende Senat im Rahmen des summarischen Verfahrens nicht ausschließt – das Vertrauensschutzkonzept des § 27 Abs. 19 Satz 2 UStG im konkreten Einzelfall den verfassungsrechtlichen und europarechtlichen Vorgaben genügt, den Vertrauensschutz nach § 176 Abs. 2 AO zu suspendieren, wenn dem Bauleistenden kein Vermögensschaden droht, d.h. wenn er dem Leistungsempfänger die Umsatzsteuer nachberechnen und dem Finanzamt den zivilrechtlichen Anspruch abtreten kann, ist mithin dem Hauptsachverfahren einer noch zu erhebenden Klage vorbehalten (so auch FG Münster in EFG 2015, 1863, Rz 26).“

Der BFH-Beschluss und die vergleichbaren FG-Beschlüsse sind bisher lediglich in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes durch Gewährung einer Aussetzung der Vollziehung ergangen. Eine finanzgerichtliche Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren ist bisher nicht erfolgt. Ein FG oder der BFH müssten in einem Hauptsacheverfahren nicht nur ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 27 Abs. 19 UStG und somit an der Rechtmäßigkeit eines angefochtenen Verwaltungsaktes haben (was die Gewährung einer AdV nach § 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO ermöglichen kann), sondern von der Verfassungswidrigkeit der Regelung des § 27 Abs. 19 UStG sogar überzeugt sein. Nur dann wäre das Gericht befugt, die Norm dem BVerfG zur Prüfung vorzulegen. Die Konsequenzen einer etwaigen Verfassungswidrigkeit des § 27 Abs. 19 UStG könnten erst nach einer entsprechenden Entscheidung des BVerfG gezogen werden, welche diese Vorschrift für nichtig oder für unvereinbar mit dem GG erklärt, da nur das BVerfG die Verwerfungskompetenz besitzt.

Entscheidend bei der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des § 27 Abs. 19 UStG dürfte sein, ob der Gesetzgeber tatsächlich die Vertrauensschutzregelung des § 176 AO nicht suspendiert, sondern sie nur für die (nach § 27 Abs. 19 Satz 1 UStG) einschlägigen Fälle durch eine der Fallgruppe angemessenere, d.h. auf das Vertrauen des leistenden Unternehmers abstellende Vertrauensschutzregelung (§ 27 Abs. 19 Sätze 3 und 4 UStG) ersetzt hat. Hierbei ist die besondere Konstellation eines Dreiecksverhältnisses (leistender Unternehmer/ Leistungsempfänger/ Finanzamt) zu betrachten, bei dem das Verhalten eines der Beteiligten (hier: des Leistungsempfängers mit seinem Antrag auf Erstattung von Umsatzsteuer nach § 13b UStG) unmittelbare Konsequenzen auch auf das Verhältnis zwischen leistendem Unternehmer und Finanzamt hat. Auf oder für ein solches Dreiecksverhältnis könnte § 176 AO nicht ausgelegt sein.

Zu bemerken ist auch – und dies wird bisher vereinzelt auch von FG erkannt –, dass die Vertragsparteien zu keinem Zeitpunkt davon ausgehen konnten und durften, dass für die entsprechenden Leistungen keine Umsatzsteuer anfällt. Das Vertrauen könnte sich demnach also nur auf die „Person des Steuerschuldners“ beziehen und dieses könnte von § 27 Abs. 19 Satz 3 und 4 UStG nachgebildet sein. Eine Wirkung des Vertrauensschutzes zugunsten des Leistungsempfängers, wie sie bei einem Verzicht auf die Steuerfestsetzung im Ergebnis eintreten würde, könnte hingegen auch unbegründet sein. Die Tatsache, dass es sich um einen steuerpflichtigen Umsatz handelte und dass die Steuer wirtschaftlich im Ergebnis den Endverbraucher trifft, dürfte außer Streit stehen.