FG Niedersachsen zur Steuerschuldnerschaft bei Bauleistungen: § 27 Abs. 19 UStG ist verfassungsgemäß

Anmerkung zu: FG Niedersachsen, Urt. v. 29.10.2015, 5 K 80/15; die Übergangsregelung des § 27 Abs. 19 UStG ist verfassungsgemäß und verstößt nicht gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Rückwirkungsverbot (keine echte Rückwirkung), siehe auch BFH, Beschl. v. 17.12.2015, XI B 84/15 (ebenfalls besprochen in diesem Newsletter)

Praxisproblem

Hat ein Handwerker (Bauleistender) auf der Grundlage der früheren Verwaltungsauffassung gegenüber einem Bauträger Bauleistungen erbracht und verlangt der Bauträger nach der Änderung der Rechtsprechung zum Reverse-Charge-Verfahren (BFH, Urt. v. 22.08.2013, V R 37/10) vom Finanzamt die § 13b-UStG-Steuer zurück, sieht sich der Bauleistende über § 27 Abs. 19 UStG dem Regress des Finanzamts ausgesetzt, da er nun nach § 13a Abs. 1 Nr. 1 UStG die Umsatzsteuer schuldet. Ein Steuerpflichtiger kann sich zwar üblicherweise gem. § 176 Abs. 2 AO auf Vertrauensschutz berufen, wenn seine ursprüngliche Steuerfestsetzung auf einer allgemeinen Verwaltungsvorschrift beruhte. § 27 Abs. 19 Satz 2 UStG schließt diese Möglichkeit in Bauträger-Fällen aber aus. Das FG Niedersachsen hat nun (zum Nachteil des Bauleistenden) entschieden, dass die mit Rückwirkung eingeführte Vorschrift des § 27 Abs. 19 Satz 2 UStG verfassungs- und unionsrechtlichen Anforderungen genügt.

Sachverhalt

Die Klägerin erbrachte in 2009 Bauleistungen (Abbruchleistungen) an die Fa. S. (nachf. Rechnungsempfängerin). Bei Erteilung der Rechnungen gingen sowohl die Klägerin als auch die Rechnungsempfängerin davon aus, dass die Rechnungsempfängerin die für die Bauleistungen entstandene Umsatzsteuer nach § 13b Abs. 2 Nr. 4 Satz 1 i.V.m. § 13b Abs. 5 Satz 2 UStG schuldet.

Die Klägerin hat unter dem 30.11.2010 eine Steuererklärung und unter dem 27.10.2011 eine berichtigte Steuererklärung für 2009 abgeben, denen das Finanzamt mit Bescheiden v. 16.12.2010 bzw. v. 10.11.2011 gefolgt ist. Aufgrund einer vom 08.04.2013 bis 04.07.2013 durchgeführten Außenprüfung ergingen für die Jahre 2009 bis 2011 unter dem 29.07.2013 Änderungsbescheide.

Mit Schreiben v. 18.03.2014 beantragte die Rechnungsempfängerin bei dem für sie zuständigen Finanzamt unter Hinweis auf das Urteil des BFH v. 22.08.2013, V R 37/10, nicht mehr Steuerschuldnerin für die an sie erbrachten Umsätze zu sein und die aufgrund der erteilten Rechnungen entrichtete Umsatzsteuer von 982,49 € zu erstatten. Der Beklagte teilte der Klägerin daraufhin mit, dass aufgrund des Antrags der Rechnungsempfängerin die Regelung des § 13b Abs. 2 Nr. 4 Satz 1 i.V.m. § 13b Abs. 5 Satz 2 UStG nicht mehr anzuwenden sei. Vielmehr schulde jetzt die Klägerin als leistende Unternehmerin die Umsatzsteuer auf die von ihr erbrachten Bauleistungen. Dementsprechend erhöhte das Finanzamt die steuerpflichtigen Leistungen der Klägerin und erließ mit Datum vom 26.11.2014 einen nach § 27 Abs. 19 UStG geänderten Umsatzsteuerbescheid für 2009. Hiergegen wendet sich die Klägerin nach erfolglosem Einspruch mit der Klage.

Entscheidung

Das FG Niedersachsen hat die Klage gegen den nach § 27 Abs. 19 UStG geänderten Umsatzsteuerbescheid für 2009 als unbegründet zurückgewiesen.

Da sowohl die Klägerin (Leistungserbringerin) als auch die Leistungs- und Rechnungsempfängerin (Fa. S.) bei Leistungserbringung davon ausgegangen sind, dass die Fa. S. gem. § 13b UStG die Umsatzsteuer in Zusammenhang mit den von der Klägerin erbrachten Bauleistungen (Abbrucharbeiten) in 2009 schuldet und sich nach Bekanntwerden des Urteils des BFH v. 22.08.2013, V R 37/10 diese Annahme als unrichtig herausstellte, weil die Leistungs- und Rechnungsempfängerin als Bauträger nicht selbst Werklieferungen ausführte, und die Fa. S. mit Schreiben v. 18.03.2014 von dem für sie zuständigen Finanzamt die Erstattung des streitigen Umsatzsteuerbetrages von 982,49 € forderte, durfte der Beklagte den Änderungsbescheid nach § 27 Abs. 19 UStG erlassen.

Der Beklagte war an der Änderung der bestandskräftigen Umsatzsteuerfestsetzung 2009 durch die Grundsätze des Vertrauensschutzes nicht gehindert, da die Änderung nach § 27 Abs. 19 UStG der Änderungssperre des § 173 Abs. 2 AO nicht entgegensteht. Die Vertrauensschutzregelung des § 173 Abs. 2 AO bezieht sich ausschließlich auf Änderungen i.S.v. § 173 Abs. 1 AO (neue Tatsachen oder Beweismittel), nicht aber auf Änderungen, die aufgrund anderer Vorschriften erfolgen.

Der Änderung nach § 27 Abs. 19 UStG steht auch die Änderungssperre des § 176 Abs. 2 AO nicht entgegen. Zwar liegen im Streitfall die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 176 Abs. 2 AO vor. Die ursprüngliche Umsatzsteuerfestsetzung für 2009 datiert vom 16.12.2010 und hat sich an der zu diesen Zeitpunkten maßgeblichen Erlasslage der Finanzverwaltung orientiert. Im Anschluss, d.h. am 22.08.2013, hat der BFH die Auslegung der Finanzverwaltung als nicht mit geltendem Recht in Einklang stehend bezeichnet. Erst im Anschluss an diese Rechtsprechung ist der Änderungsbescheid vom 26.11.2014 ergangen.

Die Anwendung der Vertrauensschutzregelung des § 176 Abs. 2 AO ist jedoch durch § 27 Abs. 19 Satz 2 UStG in verfassungs- und unionsrechtskonformer Weise ausgeschlossen worden. § 27 Abs. 19 Satz 2 UStG verstößt nicht gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art 20 Abs. 3 GG) folgende Rückwirkungsverbot. Die Vorschrift entfaltet keine echte Rückwirkung. Im Steuerrecht liegt eine echte Rückwirkung nur vor, wenn der Gesetzgeber eine bereits entstandene Steuerschuld nachträglich abändert.

Nach Auffassung des FG Niedersachsen begründet § 27 Abs. 19 UStG keine echte Rückwirkung. Mit der Vorschrift wird keine bereits entstandene Steuerschuld nachträglich abgeändert.

Die Änderungsmöglichkeit nach § 27 Abs. 19 UStG ist als verfahrensrechtliche Sonderregelung zu § 174 Abs. 3 AO zu verstehen. Mit der Änderung nach § 27 Abs. 19 UStG wird eine widerstreitende Steuerfestsetzung dergestalt korrigiert, dass statt des Leistungsempfängers der Leistungserbringer als Steuerschuldner in Anspruch genommen wird. Bei verfahrensrechtlichen Änderungsmöglichkeiten unterscheidet der BFH die echte von der unechten Rückwirkung danach, ob die Festsetzungsfrist für die zu ändernden Bescheide bereits abgelaufen ist. So hatte der BFH (Urt. v. 16.12.2014, VIII R 30/12) jüngst zu klären, ob die verfahrensrechtliche Korrekturvorschrift des § 32a KStG gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot verstößt. Der BFH entschied, dass § 32a KStG eine unechte Rückwirkung begründe, sofern es um die Änderung nicht verjährter Einkommensteuerbescheide geht. Anders falle die verfassungsrechtliche Beurteilung jedoch dann aus, wenn die Festsetzungsfrist für die Einkommensteuer nach § 169, 170, 171 bereits bei Inkrafttreten des § 32a Abs. 1 Sätze 1 und 2 KStG abgelaufen sei.

Bei Anwendung dieser Rechtsgrundsätze auf den hier vorliegenden Streitfall ist von einer unechten Rückwirkung auszugehen. Der zu ändernde Umsatzsteuerbescheid 2009 war weder bei Inkrafttreten des § 27 Abs. 19 UStG (31.07.2014) noch im Zeitpunkt der Erteilung des Änderungsbescheides (26.11.2014) festsetzungsverjährt.

Die unechte Rückwirkung des § 27 Abs. 19 UStG ist mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen vereinbar. Eine unechte Rückwirkung ist nicht grundsätzlich unzulässig. Indem der Gesetzgeber mit der Regelung des § 27 Abs. 19 UStG der materiellen Richtigkeit der Besteuerung den Vorrang vor der Rechtssicherheit einräumt, überschreitet er unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutzes nicht die Grenze des ihm zukommenden Gestaltungsspielraums.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze wurde das Vertrauensschutzprinzip durch § 27 Abs. 19 UStG im Rahmen der Verhältnismäßigkeit und Zumutbarkeit zugunsten der Rechtsrichtigkeit in noch zulässiger Weise eingeschränkt.

Gemäß § 27 Abs. 19 Sätze 3 und 4 UStG kann das für den leistenden Unternehmer zuständige Finanzamt auf Antrag zulassen, dass der leistende Unternehmer dem Finanzamt den ihm gegen den Leistungsempfänger zustehenden Anspruch auf Zahlung der gesetzlich entstandenen Umsatzsteuer abtritt, wenn die Annahme der Steuerschuld des Leistungsempfängers im Vertrauen auf eine Verwaltungsanweisung beruhte und der leistende Unternehmer bei der Durchsetzung des abgetretenen Anspruchs mitwirkt. Hierdurch wird dem leistenden Unternehmer die Möglichkeit eröffnet, den zivilrechtlichen Anspruch gegenüber dem Leistungsempfänger (Bauträger) auf die (noch ausstehende) Zahlung der Umsatzsteuer an das FA an Zahlungs statt abzutreten. Im Streitfall hätte die Klägerin die Möglichkeit gehabt, ihren zivilrechtlichen – noch nicht verjährten – Umsatzsteuernachforderungsanspruch an das Finanzamt abzutreten. Das Finanzamt hat kein Ermessen, ob es die Abtretung annimmt oder nicht (Heuermann, DB 2015, 572, 577, Lippross, NWB 2016, 677, 686; Sterzinger UR 2014, 810). Trotz des Wortlauts ergibt sich aus dem Prinzip des Vertrauensschutzes eine gebundene Verwaltung. Die Abtretung führt zu einem „Nullsummenspiel“, das keinerlei Vertrauen enttäuscht. Deshalb muss das Finanzamt die Abtretung akzeptieren. Da das Gesetz lediglich auf den Bestand der abgetretenen Forderung abstellt (§ 27 Abs. 19 Satz 4 Nr. 2 UStG), trägt das Finanzamt das Risiko, die Forderung z.B. wegen Insolvenz des Leistungsempfängers nicht durchsetzen zu können.

Auch mit einer Zinsbelastung des Leistenden ist nicht zu rechnen. Bei der Verzinsung der nachträglichen Steuerfestsetzung gegenüber dem leistenden Unternehmer nach § 27 Abs. 19 Satz 1 gilt der Antrag des Leistungsempfängers auf Erstattung der zunächst von ihm entrichteten Umsatzsteuer als rückwirkendes Ereignis i.S.d. § 233a Abs. 2a AO. Der Zinslauf von Nachzahlungszinsen nach § 233a beginnt in diesen Fällen folglich erst 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem das rückwirkende Ereignis eingetreten ist (BMF-Schreiben v. 31.07.2014, MwStR 14, 527).

Die nach deutschem Verfassungsrecht gebotenen Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und Rechtssicherheit entsprechen den gleichlautenden europarechtlichen, die für alle Rechtsakte der Union gelten. Der EuGH hatte bereits über den Fall zu entscheiden, dass die am Leistungsaustausch beteiligten Parteien rechtsirrig von der Anwendbarkeit des Reverse-Charge-Verfahrens ausgegangen waren. Er entschied, dass eine Steuerschuldnerschaft des Leistungserbringers unionsrechtlich unproblematisch ist, sofern dieser die Umsatzsteuer von seinem Leistungsempfänger erstattet bekommt (EuGH, Urt. v. 06.02.2014, C-424/12, SC Fatorie SRL, MwStR 2014, 125 mit Anm. Leonard). § 27 Abs. 19 UStG genügt diesen unionsrechtlichen Vorgaben, weil der Leistungserbringer einen - nicht verjährten - zivilrechtlichen Anspruch auf Zahlung gegenüber seinem Vertragspartner hat. Das Finanzamt ist zur Annahme der Abtretung verpflichtet und trägt ein etwaiges Insolvenzrisiko des Leistungsempfängers.

Praxishinweis

Mit dieser Entscheidung hat das FG Niedersachsen – für Bauleistende wenig erfreulich – entschieden, dass die Korrektur nach § 27 Abs. 19 Satz 1 UStG und der Ausschluss des Vertrauensschutzes gem. § 176 Abs. 2 AO durch § 27 Abs. 19 Satz 2 UStG verfassungs- und unionsrechtskonform sind. Ob die Entscheidung allerdings derart vom BFH gehalten wird, dürfte fraglich sein: Das FG Niedersachsen differenziert bei seiner Prüfung nicht zwischen § 27 Abs. 19 Satz 1 und Satz 2 UStG. Da bezüglich der rückwirkenden Einführung von § 27 Abs. 19 Satz 2 UStG, entgegen der Ansicht des FG Niedersachsen, eine „echte Rückwirkung“ vorliegen dürfte, stellt sich die Frage, ob eine vom BVerfG anerkannte Fallgruppe ausnahmsweise zulässiger „echter Rückwirkung“ erfüllt ist. Davon dürfte der Ausgang des Revisionsverfahrens abhängen. Auch die Begründung der Unionsrechtskonformität überzeugt nicht. Der vom FG Niedersachsen herangezogene Vergleichsfall (EuGH, Urt. v. 06.02.2014, C-424/12, SC Fatorie SRL) behandelt verfahrensrechtlich nur die Problematik des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO, also die Möglichkeit, Steuerbescheide zu ändern, wenn nachträglich neue Tatsachen bekannt werden. Die in Bezug genommene Entscheidung macht zur Frage, ob rückwirkende Gesetze gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstoßen, überhaupt keine Ausführungen. Das Urteil des FG Niedersachsen zeigt jedoch die Wichtigkeit auf, dass nicht nur gegen die Umsatzsteuerfestsetzung seitens des Bauleistenden vorgegangen werden sollte, sondern parallel die Annahme der Abtretung des Umsatzsteuernachforderungsanspruchs gem. § 27 Abs. 19 Sätze 3 und 4 UStG gegen den Bauträger auf Erhebungsebene betrieben werden muss. Es scheint sich abzuzeichnen, dass der Bauleistende seine finanzielle Entlastung durch die Abtretung seines Umsatzsteuernachforderungsanspruchs zu suchen hat.