EuGH zu Sondermaßnahmen zur Sicherung der Steuererhebung und zur Vermeidung von Steuerhinterziehung (Besteuerung nicht verbuchter Wareneingänge als steuerbare Ausgangslieferungen)

Anmerkung zu: EuGH, Urt. v. 05.10.2016, C-576/15, ET Maya Marinova

Praxishinweis

Der EuGH hatte im Wesentlichen über die Auslegung von Art. 273 MwStSystRL zu entscheiden, wonach die Mitgliedstaaten unter bestimmten Voraussetzungen weitere (über die MwStSystRL hinausgehende) Pflichten vorsehen können, um die Steuererhebung sicherzustellen und Steuerhinterziehung zu vermeiden.

Streitig war insbesondere, ob eine Regelung (wie in Bulgarien) unionsrechtlich zulässig ist, wonach das tatsächliche Nichtvorhandensein von Waren, die einem Unternehmer aufgrund steuerbarer Lieferungen übergeben wurden, als nachgelagerte entgeltliche steuerbare Lieferungen derselben Waren durch dieselbe Person zu behandeln sind, ohne dass deren Empfänger festgestellt wurde, wenn damit die Vermeidung von Mehrwertsteuerhinterziehung bezweckt wird.

Sachverhalt

Die Klägerin betreibt einen Einzelhandel mit Nahrungsmitteln und Nicht-Nahrungsmitteln. Bei einer Außenprüfung wurde festgestellt, dass in den Jahren 2008 bis 2011 verschiedene nach dem BG-MwStG registrierte Lieferer der Klägerin Rechnungen über die Lieferung von Waren, vorwiegend von Tabakerzeugnissen und/oder Nahrungsmitteln ausgestellt hatten, die von den Lieferern, nicht aber von der Klägerin verbucht wurden. Die in den Rechnungen angegebenen Waren wurden von der Klägerin auch nicht als auf Lager vorhanden verbucht. Ausweislich der Erklärungen, die einige Lieferer abgegeben haben, wurden die Waren der Klägerin übergeben. Aufgrund dieser Feststellungen und angesichts der Natur der Waren (als im wirtschaftlichen Sinne kurzfristig in liquide Mittel umwandelbar) nahm die Finanzbehörde an, dass in dem Steuerzeitraum, in dem die Rechnungen von den Lieferern ausgestellt wurden, die Klägerin nachgelagerte Lieferungen der Waren bewirkt habe, indem sie sie im Einzelhandel an unbekannte dritte Personen verkauft habe, und dass diese vermuteten nachgelagerten Verkäufe zum einen entgeltlich und zum anderen gewinnbringend (von wirtschaftlichem Vorteil) für die Klägerin seien. Somit wurde für den von der Steuerprüfung umfassten Zeitraum zusätzliche Mehrwertsteuer festgesetzt. Weiterhin wurde der Klägerin der Vorsteuerabzug versagt, wobei für den Zeitraum, in dem sie förmlich für die Zwecke der Mehrwertsteuer registriert war, die fehlende Vorlage der von den Lieferern, nicht aber von ihr verbuchten Rechnungen der Grund für diese Versagung war, während für den Zeitraum, in dem sie nicht förmlich für die Zwecke der Mehrwertsteuer registriert war, die fehlende Registrierung und die deswegen nicht bestehende Möglichkeit zur Einreichung der entsprechenden Erklärungen nach dem nationalen Recht der Grund für die Versagung war.

Die Klägerin machte geltend, dass die Voraussetzungen für die Steuerfestsetzung nach dem nationalen Recht nicht vorlägen. Die Aufführung von Rechnungen über Warenverkäufe in den Büchern der Lieferer bedeute nicht, dass sie diese Waren tatsächlich erhalten habe.

Der EuGH musste entscheiden, ob die allgemeine Befugnis, die Art. 273 MwStSystRL den Mitgliedstaaten zur Vermeidung von Steuerhinterziehung einräumt, unter Berücksichtigung der Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit eine Steuerpraxis wie die im Ausgangsverfahren zulässt, bei der das tatsächliche Nichtvorhandensein von Waren, die aufgrund von steuerbaren Lieferungen erhalten wurden, beim Steuerpflichtigen trotz fehlender objektiver Merkmale, die unter den Begriff der entgeltlichen Lieferung von Gegenständen fallen, im Hinblick auf die Ansprüche der Staatskasse als steuerbare und entgeltliche Lieferung i.S.d. Art. 14 Abs. 1 MwStSystRL behandelt werden darf. Des Weiteren war im selben Kontext für die Zwecke des Ausgangsverfahrens eine Auslegung der Frage erforderlich, ob es die nicht ordnungsgemäße Buchhaltung des Steuerpflichtigen, die sich aus in der Buchhaltung nicht ausgewiesenen Ausgaben für den Erwerb von Waren aufgrund steuerbarer Lieferungen ergibt, dem entsprechenden Mitgliedstaat nach Art. 273 MwStSystRL erlaubt, eine Steuerpraxis wie die im Ausgangsverfahren anzuwenden, um Steuerhinterziehung zu vermeiden.

Entscheidung

In seinem Urteil geht der EuGH davon aus, dass das vorlegende Gericht es für erwiesen hielt, dass die Klägerin die strittigen Warenlieferungen tatsächlich erhalten und die Waren weiterveräußert hatte. Er stellt fest, dass das Nichtführen von Aufzeichnungen sowie die Nichtverbuchung der ausgestellten und beglichenen Rechnungen als Steuerhinterziehung angesehen werden können. Es sei Sache der zuständigen nationalen Einrichtungen, die Situation wiederherzustellen, die ohne die Steuerhinterziehung bestanden hätte. Hinsichtlich der Pflichten, die die Mitgliedstaaten nach Art. 273 MwStSystRL vorsehen können, stehe ihnen ein Ermessen zu, wobei der Verhältnismäßigkeits- und Neutralitätsgrundsatz zu wahren sind.

Nach dem Urteil ist es Sache des nationalen Gerichts zu prüfen, ob die im bulgarischen Recht vorgesehene Methode zur Schätzung der Steuerbemessungsgrundlage (anhand der der Steuerbehörde vorliegenden Anhaltspunkte, wie die Art und die Natur der tatsächlich ausgeübten Tätigkeit, die Dokumente, die glaubwürdige Angaben enthalten, die wirtschaftliche Bedeutung des Ortes, an dem die Tätigkeit ausgeübt wird, die betreffenden Waren und die Bruttoeinnahmen und andere für diesen Zweck relevante Beweise) ein Mittel der Betrugsbekämpfung darstellt und dem Verhältnismäßigkeits- und Neutralitätsgrundsa tz entspricht. Der EuGH gibt jedoch den Hinweis, dass nach den ihm vorgelegten Akten ein Verstoß nicht ersichtlich sei.

Zum Neutralitätsgrundsatz (i.S.d. Gleichbehandlung im Mehrwertsteuerbereich) führt er aus, dass sich ein Steuerpflichtiger, der sich vorsätzlich an einer Steuerhinterziehung beteiligt und das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems gefährdet hat, nicht auf diesen Grundsatz berufen kann.

Der EuGH kommt daher zu dem Ergebnis, dass „Art. 2 Abs. 1 Buchst. a, Art. 9 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 und die Art. 73 und 273 MwStSystRL sowie der Grundsatz der Steuerneutralität dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegenstehen, nach der die Steuerbehörde bei Nichtvorhandensein von einem Steuerpflichtigen gelieferten Waren in dessen Lager und bei fehlender Verbuchung damit zusammenhängender steuerlich relevanter Dokumente in den Aufzeichnungen dieses Steuerpflichtigen davon ausgehen darf, dass der Steuerpflichtige diese Waren später an Dritte verkauft hat, und die Steuerbemessungsgrundlage für die Verkäufe dieser Waren anhand der ihr vorliegenden tatsächlichen Anhaltspunkte nach nicht in dieser Richtlinie vorgesehenen Regeln bestimmen darf. Das vorlegende Gericht hat jedoch zu prüfen, ob diese nationale Regelung nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, um die genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu vermeiden.“

Praxishinweis

Das Urteil hat für das deutsche Recht zwar unmittelbar kaum Bedeutung, weil dieses eine dem bulgarischen Recht vergleichbare Regelung nicht kennt. Die deutschen Regelungen zur Umsatzbesteuerung nicht erklärter Umsätze (z.B. Schätzung) dürften aber im Einklang mit den allgemeinen Urteilsgrundsätzen stehen.

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