EuGH zum Begriff der Gebrauchtgegenstände

Anmerkung zu: EuGH, Urt. v. 18.01.2017, C-471/15, Sjelle Autogenbrug I/S

Praxisproblem

Der EuGH hatte über die Differenzbesteuerung für Gebrauchtgegenstände gem. Art. 311 ff. MwStSystRL zu entscheiden. Streitig war, ob im Zusammenhang mit dem Verkauf von Ersatzteilen, die Altfahrzeugen entnommen werden, die entweder von einer Privatperson oder von einer Versicherungsgesellschaft erworben wurden, die Voraussetzungen für die Anwendung der Sonderregelung über die Differenzbesteuerung erfüllt werden können. Der EuGH musste klären, ob Fahrzeugen entnommene Autoteile unter den im Ausgangsverfahren vorliegenden Umständen unter den Begriff „Gebrauchtgegenstände“ i.S.d. Art. 311 Abs. 1 Nr. 1 MwStSystRL.

Sachverhalt

Der Kläger ist ein Fahrzeugverwertungsunternehmen, das hauptsächlich mit Autoteilen aus Altfahrzeugen und Totalschäden handelt. Der Verkauf dieser Autoersatzteile erfolgt im Wettbewerb mit den von den Autoherstellern hergestellten neuen Originalersatzteilen oder nachgeahmten Waren, die in der Regel aus Fernost oder anderen Ländern außerhalb der EU eingeführt werden. Die Tätigkeit des Klägers besteht ferner darin, die Altfahrzeuge, aus denen die Teile entnommen werden, unter Umwelt- und Abfallgesichtspunkten zu behandeln und den danach zurückbleibenden Metallschrott zu verkaufen. Letzteres macht einen kleineren Teil des Gesamtumsatzes des Unternehmens aus. Das Unternehmen ist mehrwertsteuerlich für den Großhandel mit Altmaterialien und Reststoffen erfasst.

Die Fahrzeuge werden von Privatpersonen und Versicherungsgesellschaften übernommen. Fahrzeuge, die von Privaten erworben werden, können Altfahrzeuge oder Fahrzeuge sein, die z.B. bei einem Verkehrsunfall beschädigt wurden, bei denen der Schaden jedoch nicht durch die Kaskoversicherung abgedeckt ist. Fahrzeuge, die der Kläger von Versicherungsgesellschaften bei Internetauktionen erwirbt, sind Fahrzeuge, die beschädigt und von der Versicherungsgesellschaft im Zusammenhang mit der Auszahlung der Versicherungssumme übernommen wurden. Weder die Versicherungsgesellschaften noch die Privatpersonen meldeten Mehrwertsteuer für die Verkäufe an den Kläger an. Die Fahrzeuge werden gewöhnlich zum Recycling im Hinblick auf den Verkauf von Autoersatzteilen angekauft.

Der Kläger hatte im Jahre 2010 die dänische Finanzbehörde um eine verbindliche Auskunft darüber angefragt, ob beim Verkauf von Ersatzteilen aus einem von einer Privatperson erworbenen Altfahrzeug oder beim Verkauf von Ersatzteilen aus einem von einer Versicherungsgesellschaft erworbenen totalbeschädigten Fahrzeug die Differenzbesteuerung anwendbar ist. Die Finanzbehörde war der Auffassung, dass diese für die hier in Rede stehenden Verkäufe von Autoteilen nicht gelte, da es sich nicht um den Weiterverkauf von „Gebrauchtgegenständen“ im Sinne dieser Regelung handele.

Entscheidung

Der EuGH hat entschieden, dass Art. 311 Abs. 1 Nr. 1 MwStSystRL dahin auszulegen ist, dass gebrauchte Teile, die aus Altfahrzeugen, die ein Autoverwertungsunternehmen von einer Privatperson erworben hat, stammen und als Ersatzteile verkauft werden sollen, „Gebrauchtgegenstände“ im Sinne dieser Bestimmung sind, mit der Folge, dass die Lieferungen solcher Teile durch einen steuerpflichtigen Wiederverkäufer der Differenzbesteuerung unterliegen.

Nach dem Wortlaut von Art. 311 Abs. 1 Nr. 1 MwStSystRL sind „Gebrauchtgegenstände“ „bewegliche körperliche Gegenstände, die in ihrem derzeitigen Zustand oder nach Instandsetzung erneut verwendbar sind“. Aus dieser Bestimmung folgt nach dem EuGH-Urteil nicht, dass der Begriff „Gebrauchtgegenstände“ bewegliche körperliche Gegenstände, die in ihrem derzeitigen Zustand oder nach Instandsetzung erneut verwendbar sind, ausschließt, wenn sie von einem anderen Gegenstand stammen, dessen Bestandteile sie waren. Dass ein gebrauchter Gegenstand, der Bestandteil eines anderen Gegenstands ist, von diesem getrennt wird, stellt nach dem Urteil die Einstufung des entnommenen Gegenstands als „Gebrauchtgegenstand“ nicht in Frage, sofern er „in seinem derzeitigen Zustand oder nach Instandsetzung“ erneut verwendbar ist. Für die Einordnung als „Gebrauchtgegenstand“ ist nur erforderlich, dass dem gebrauchten Gegenstand unverändert die Funktionen zukommen, die er im Neuzustand hatte, und dass er daher in seinem derzeitigen Zustand oder nach Instandsetzung erneut verwendbar ist. Dies ist bei Autoteilen, die aus einem Altfahrzeug entnommen wurden, nach dem Urteil der Fall, weil ihnen, auch wenn sie von diesem Fahrzeug getrennt werden, unverändert die Funktionen zukommen, die sie im Neuzustand hatten, und sie somit zu denselben Zwecken erneut verwendbar sind.

Das Vorbringen der dänischen Regierung, die Einordnung als „Gebrauchtgegenstand“ i.S.v. Art. 311 Abs. 1 Nr. 1 MwStSystRL setze eine Identität zwischen dem angekauften und dem verkauften Gegenstand voraus, was beim Ankauf eines vollständigen Kraftfahrzeugs und dem Wiederverkauf von Teilen, die aus diesem Fahrzeug entnommen wurden, nicht der Fall sei, hat der EuGH zurückgewiesen. Würden Lieferungen solcher Ersatzteile durch einen steuerpflichtigen Wiederverkäufer mit Mehrwertsteuer belegt, hätte dies eine Doppelbesteuerung zur Folge, weil zum einen im Verkaufspreis dieser Teile schon zwangsläufig die Mehrwertsteuer berücksichtigt wurde, die bereits im Vorfeld durch eine Person, die unter Art. 314 Buchst. a MwStSystRL fällt, beim Kauf des Fahrzeugs entrichtet wurde, und zum anderen, weil dieser Betrag weder von dieser Person noch vom steuerpflichtigen Wiederverkäufer abgezogen werden konnte.

Praxishinweis

Der EuGH hat bisher in ständiger Rechtsprechung festgestellt, dass die Regelung zur Besteuerung der Handelsspanne des steuerpflichtigen Wiederverkäufers bei der Lieferung von Gebrauchtgegenständen eine von der allgemeinen Regelung der MwStSystRL abweichende Mehrwertsteuersonderregelung darstellt und dass sie daher wie die anderen in der Richtlinie vorgesehenen Sonderregelungen nur in dem für die Erreichung ihres Ziels notwendigen Maß angewandt werden soll (vgl. EuGH, Urteile v. 08.12.2005, C-280/04, Jyske Finans, v. 03.03.2011, C-203/10, Auto Nikolovi und v. 19.07.2012, C-160/11, Bawaria Motors). Bisher hatte der EuGH keinen Anlass, sich zum Begriff des Gebrauchtgegenstands, wie er im Ausgangsverfahren streitig ist, zu befassen. In seinem Urteil v. 01.04.2004, C-320/02, Stenholmen hatte der EuGH den Begriff „Gebrauchsgegenstand“ im Zusammenhang mit lebenden Tieren ausgelegt. Er hatte festgestellt, dass Art. 26a der 6. EG-Richtlinie (jetzt: Art. 311 Abs. 1 Nr. 1 MwStSystRL) dahin auszulegen ist, dass ein Pferd, das von einer Privatperson (die nicht der Züchter ist) gekauft worden ist und nach der Ausbildung zum Reitpferd weiterverkauft wird, als Gebrauchtgegenstand im Sinne der Richtlinie anzusehen ist.

Der EuGH begründet dies (auch im vorliegenden Urteil) im Wesentlichen mit dem Zweck der Differenzbesteuerung, Doppelbesteuerungen zu vermeiden, die – ohne Anwendung der Differenzbesteuerung – dadurch entstehen, dass im Kaufpreis für den Gegenstand enthaltene Restmehrwertsteuer beim Weiterverkauf Teil der Bemessungsgrundlage ist. Zwar definiert Art. 26a der 6. EG-Richtlinie (jetzt: Art. 311 Abs. 1 Nr. 1 MwStSystRL) den Begriff des Gebrauchtgegenstands dahingehend, dass er nach seinem derzeitigen Zustand oder nach Instandsetzung erneut verwendbar ist. Diese Wendung ist nach dem EuGH-Urteil aber nicht restriktiv auszulegen. Von daher ist für die Anwendung der Differenzbesteuerung nicht Voraussetzung, dass der erworbene und weiter veräußerte Gegenstand in seiner Substanz miteinander vergleichbar ist.

Aus der jetzigen Entscheidung kann gefolgert werden, dass der Anwendungsbereich der Differenzbesteuerung eher weit ist. Für die Frage, ob ein Gebrauchtgegenstand i.S.v. Art. 311 Abs. 1 Nr. 1 MwStSystRL vorliegt, dürfte es demnach in erster Linie darauf ankommen, ob dieser Gegenstand ohne Vorsteuerabzugsrecht erworben worden ist. Für einen eher weiten Anwendungsbereich der Differenzbesteuerung spricht nach dem EuGH-Urteil v. 01.04.2004, C-320/02, Stenholmen auch der Zweck der Mehrwertbesteuerung, den wirtschaftlichen Mehrwert zu besteuern. Diesem Ziel wäre nicht gedient, wenn der Anwendungsbereich der Differenzbesteuerung eingeschränkt wäre, mit der Folge, dass die jeweiligen Verkaufserlöse in voller Höhe der Umsatzbesteuerung unterliegen.

Sinn und Zweck der Differenzbesteuerung ist, dem Neutralitätsprinzip der Mehrwertsteuer, d.h. dem Gedanken, dass ein Unternehmer grundsätzlich nicht mit Umsatzsteuer belastet wird, Rechnung zu tragen. Normalerweise wird die Neutralität über das Vorsteuerabzugsrecht gewährleistet. Bei Waren, die bereits in den Endverbrauch gelangt waren (= mit Umsatzsteuer belastet sind) und ihren Weg zurück in die Unternehmerkette finden, soll die Besteuerung auf der Basis der Differenz (Verkaufspreis ./. Einkaufspreis) bewirken, dass der Wiederverkäufer von der genannten Umsatzsteuerbelastung entlastet wird. Ist der vom Wiederverkäufer eingekaufte Gegenstand aber nicht mit Umsatzsteuer belastet gewesen (weil der Verkäufer zum Vorsteuerabzug berechtigt ist), soll auch die Differenzbesteuerung nicht zur Anwendung kommen. Andernfalls käme es zu einer Entlastung, ohne dass ihr eine Belastung vorangegangen wäre, d.h. zu einer nicht zu rechtfertigenden überschießenden Begünstigung.

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