EuGH zur Steuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung trotz fehlender Registrierung des Erwerbers sowie fehlender Erfassung im Mehrwertsteuer-Informationsaustausch (MIAS)

Anmerkung zu: EuGH, Urt. v. 09.02.2017, C-21/16, Euro Tyre BV – Sucursal em Portugal

Praxisproblem

Art. 138 Abs. 1 MwStSystRL verpflichtet die Mitgliedstaaten, die Lieferung von Gegenständen, die die in dieser Vorschrift aufgezählten Voraussetzungen erfüllen, von der Steuer zu befreien. Danach befreien die Mitgliedstaaten Lieferungen von Gegenständen, die durch den Verkäufer, den Erwerber oder für ihre Rechnung in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union versandt oder befördert werden, von der Steuer, sofern diese Lieferung an einen anderen Steuerpflichtigen oder an eine nichtsteuerpflichtige juristische Person bewirkt wird, der/die als solche/r im Bestimmungsland der Versendung oder Beförderung der Gegenstände handelt. Die nationale Umsetzung dieser Richtlinienvorgabe ist in § 4 Nr. 1 Buchst. b) i.V.m. § 6a UStG normiert.

Das vorlegenden Gericht hatte in diesem Fall Zweifel, ob die in Art. 138 Abs. 1 MwStSystRL vorgesehene Steuerbefreiung innergemeinschaftlicher Lieferungen an die Bedingung geknüpft werden kann, dass der Erwerber, der in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Beginns der Versendung oder Beförderung ansässig ist, in diesem anderen Staat für innergemeinschaftliche Umsätze registriert und im MIAS erfasst ist. Daher hatte der EuGH in seinem Urteil insbesondere über die Frage der Auslegung von Art. 131 und Art. 138 Abs. 1 MwStSystRL unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu entscheiden.

Sachverhalt

Die portugiesische Klägerin importiert und exportiert Reifen verschiedener Marken und verkauft diese an Einzelhändler in Portugal und Spanien. Teilweise bedient sich Euro Tyre dabei der Euro Tyre Distribución de Neumáticos SL als Vertriebspartnerin. Der Ausgangsstreit betrifft mehrere Verkäufe an diese Vertriebspartnerin in den Jahren 2010 bis 2012. Zu diesem Zeitpunkt war die Euro Tyre Distribución de Neumáticos SL in Spanien als Mehrwertsteuerpflichtige registriert, unterlag dort aber noch nicht dem Besteuerungssystem für den innergemeinschaftlichen Erwerb und war darüber hinaus auch noch nicht im Mehrwertsteuer-Informationsaustauschsystem (MIAS) erfasst. Erst am 19.03.2013 erkannte die spanische Steuerverwaltung die Euro Tyre Distribución de Neumáticos SL als innergemeinschaftliche Marktteilnehmerin an und registrierte sie mit Wirkung vom 01.07.2012 in MIAS.

Euro Tyre deklarierte die genannten Verkäufe an die Euro Tyre Distribución de Neumáticos SL als steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen. Im Zuge eine Steuerprüfung betreffend der Jahre 2010 bis 2012 stellte die portugiesische Steuerbehörde fest, dass die Voraussetzungen der Steuerbefreiung nicht erfüllt seien, da die Euro Tyre Distribución de Neumáticos SL in Spanien zum Zeitpunkt der Verkäufe weder für innergemeinschaftliche Umsätze registriert noch im MIAS erfasst gewesen sei. Dementsprechend berichtigte die Steuer- und Zollbehörde die von Euro Tyre für die Jahre 2010 bis 2012 geschuldete Mehrwertsteuer und erhöhte sie um die Verzugszinsen. Ein entsprechender Einspruch seitens Euro Tyre wurde zurückgewiesen. Nachdem auch ein weiterer Einspruch bei der übergeordneten Stelle erfolglos blieb, rief die Euro Tyre das vorlegende Gericht an. Nach Ausfassung der Euro Tyre sind die in Art. 14 Buchst. a RITI (portugiesische Mehrwertsteuerregelung für innergemeinschaftliche Umsätze) genannten Voraussetzungen, dass der Erwerber von einem Besteuerungssystem für den innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen erfasst und im MIAS registriert sein müsse, auf eine fehlerhafte Umsetzung der MwStSystRL zurückzuführen. Eine solche Voraussetzung sein nämlich in Art. 138 Abs. 1 MwStSystRL nicht vorgesehen und stelle allenfalls eine formelle (nationale) Anforderung der Republik Portugal dar.

Das vorlegende Gericht wies darauf hin, dass die Euro Tyre Distribución de Neumáticos SL seit Juni 2010 in Spanien für inländische Umsätze mehrwertsteuerlich erfasst gewesen sei. Die erteilte Identifikationsnummer wurde auf allen Rechnungen für die in Rede stehenden Verkäufe sowie in allen damit zusammenhängenden zusammenfassenden Meldungen (ZM) angegeben. Euro Tyre habe zwar Kenntnis davon gehabt, dass der Vertriebspartner von keinem Besteuerungssystem für den innergemeinschaftlichen Erwerb erfasst wurde und auch nicht im MIAS registriert war, jedoch damit gerechnet, dass die spanische Steuerverwaltung der Euro Tyre Distribución de Neumáticos SL rückwirkend den Status einer innergemeinschaftlichen Marktteilnehmerin zuerkennen werde. Nach Auffassung der portugiesischen Steuerverwaltung habe Euro Tyre im vorliegenden Fall weder eine Steuerhinterziehung noch eine Steuerumgehung begangen.

Vor diesem Hintergrund hat das Tribunal Arbitral Tributário (Schiedsgericht für Steuerangelegenheiten) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem EuGH zwei Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Sind Art. 131 und Art. 138 Abs. 1 MwStSystRL dahin auszulegen, dass sie die Steuerverwaltungen der Mitgliedstaaten daran hindern, die Mehrwertsteuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung aus dem Grund zu versagen, dass der im Bestimmungsland ansässige Erwerber, der eine für die Umsätze in diesem Staat gültige Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer besitzt, zum Zeitpunkt der Lieferung weder im MIAS registriert noch von einem Besteuerungssystem für den innergemeinschaftlichen Erwerb erfasst ist?
2. Steht Art. 138 Abs. 1 MwStSystRL bei einer Auslegung unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes einer solchen Versagung entgegen, wenn der Verkäufer von der mehrwertsteuerlichen Situation des Erwerbers Kenntnis hatte und davon überzeugt war, dass dieser zu einem späteren Zeitpunkt rückwirkend als innergemeinschaftlicher Marktteilnehmer registriert werden würde?

Entscheidung

Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist die Befreiung der innergemeinschaftlichen Lieferung eines Gegenstands erst dann anwendbar, wenn das Recht, wie ein Eigentümer über den Gegenstand zu verfügen, auf den Erwerber übertragen worden ist, wenn der Verkäufer nachweist, dass der Gegenstand in einem anderen Mitgliedstaat versandt oder befördert worden ist und wenn der Gegenstand aufgrund dieses Versands oder dieser Beförderung den Liefermitgliedstaat physisch verlassen hat (vgl. EuGH, Urt. v. 06.09.2012, C-273/11, Mecsek-Gabona, EU:C:2012:547, Rn. 31 mwN).

Im dem EuGH vorgelegten Fall waren die materiellen Voraussetzungen des Art. 138 Abs. 1 MwStSystRL erfüllt. Die Befreiung von der Mehrwertsteuer wurde nur deshalb versagt, weil die Euro Tyre Distribución de Neumáticos SL zum Zeitpunkt der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verkäufe weder in Spanien für innergemeinschaftliche Umsätze registriert noch im MIAS erfasst war. Die Euro Tyre Distribución de Neumáticos SL verfügte jedoch in Spanien über eine Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer, die für Umsätze in diesem Staat gültig war, nicht aber für innergemeinschaftliche Umsätze.

Dem Argument, dass eine solche Verpflichtung sich möglicherweise aus der Bedingung ableiten lässt, dass der Erwerber ein Steuerpflichtiger sein muss, der als solcher in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Beginns der Versendung oder Beförderung der Gegenstände handelt, folgt der EuGH nicht (vgl. entsprechend EuGH, Urt. v. 27.09.2012, C-587/10, VSTR, EU:C:2012:592, Rn. 40). Um als Steuerpflichtiger zu gelten, sei nach Art. 9 Abs. 1 MwStSystRL vielmehr entscheidend, dass eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausgeübt wird. Aus der bisherigen Rechtsprechung des EuGH ergebe sich, dass ein Steuerpflichtiger in dieser Eigenschaft handelt, wenn er Umsätze im Rahmen seiner steuerbaren Tätigkeit tätigt (vgl. EuGH, Urt. v. 27.09.2012, C-587/10, VSTR, EU:C:2012:592, Rn. 49 mwN).

Es handelt sich daher im vorgelegten Fall um formelle Erfordernisse, die den Anspruch der Euro Tyre auf Steuerbefreiung nicht in Frage stellen können, sofern die materiellen Voraussetzungen einer innergemeinschaftlichen Lieferung erfüllt sind.

In Ermangelung konkreter Bestimmungen in der MwStSystRL, welche Beweise Steuerpflichtige vorlegen müssen, um in den Genuss der Steuerbefreiung zu gelangen, sind die Mitgliedstaaten nach Art. 131 MwStSyStRL dafür zuständig, Bedingungen festzulegen, unter denen sie innergemeinschaftliche Lieferung befreien. Bei der Bestimmung dieser Bedingungen sind die allgemeinen Rechtsgrundsätze der EU zu beachten.

Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität erfordert, dass die Mehrwertsteuerbefreiung gewährt wird, wenn die materiellen Voraussetzungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Anforderungen nicht erfüllt hat (vgl. EuGH, Urt. v. 20.10.2016, C-24/15, Plöckl, EU:C:2016:791, Rn. 39). Mithin darf grundsätzlich die Steuerbefreiung nicht allein deshalb versagt werden, weil der Erwerber weder in MIAS registriert noch von einem Besteuerungssystem für den innergemeinschaftlichen Erwerb erfasst ist.

Dieser Grundsatz der steuerlichen Neutralität gilt nicht, sofern der Steuerpflichtige sich vorsätzlich an einer Steuerhinterziehung beteiligt hat, die das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems gefährdet. Sollte der Steuerpflichtige gewusst haben oder hätte wissen müssen, dass der von ihm bewirkte Umsatz mit einer Steuerhinterziehung des Erwerbers verknüpft war und sofern er nicht alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um diese zu verhindern, muss ihm der Anspruch auf Steuerbefreiung versagt werden.

Der Klägerin war im vorliegenden Fall zwar bekannt, dass die Euro Tyre Distribución de Neumáticos SL in Spanien weder im MIAS registriert noch von einem Besteuerungssystem für den innergemeinschaftlichen Erwerb erfasst war, jedoch vertraute sie auf eine rückwirkende Registrierung als innergemeinschaftlicher Marktteilnehmer. Anhaltspunkte für eine entsprechende Gefährdung des Funktionierens des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems waren nicht ersichtlich.

Ferner kann der Verstoß gegen eine formelle Anforderung zur Versagung der Mehrwertsteuerbefreiung führen, wenn er den sicheren Nachweis verhindert, dass die materiellen Anforderungen erfüllt wurden. Auch dies war im zugrundeliegenden Fall nicht einschlägig.

Daher beantwortete der EuGH die vorlegten Fragen so, dass Art. 131 und Art. 138 Abs. 1 MwStSystRL dahingehend auszulegen sind, dass sie die Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats daran hindern, die Steuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung nur aus dem Grund zu versagen, dass der im Bestimmungsmitgliedstaat ansässige Erwerber, der eine für die Umsätze in diesem Staat gültige Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer besitzt, zum Zeitpunkt der Lieferung weder in MIAS registriert noch von einem Besteuerungssystem für den innergemeinschaftlichen Erwerb erfasst ist, obwohl keine ernsthaften Anhaltspunkte für eine Steuerhinterziehung bestehen und feststeht, dass die materiellen Voraussetzungen der Befreiung erfüllt sind.

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz steht einer solchen Versagung darüber hinaus ebenfalls entgegen, wenn der Verkäufer von der mehrwertsteuerlichen Situation des Erwerbs Kenntnis hatte und davon überzeugt war, dass dieser zu einem späteren Zeitpunkt rückwirkend als innergemeinschaftlicher Marktteilnehmer registriert werden würde.

Praxishinweis

Der Mehrwertsteuer-Informationsaustausch (MIAS) ermöglicht zum einen den Wirtschaftsbeteiligten, die Bestätigung der Mehrwertsteuer-Identifikationsnummern (USt-IdNrn.) ihrer Geschäftspartner zu erlangen und zum anderen den nationalen Steuerbehörden, die innergemeinschaftlichen Umsätze zu kontrollieren sowie eventuelle Unregelmäßigkeiten aufzuspüren. Rechtliche Grundlage für diese elektronische Datenbank ist seit dem 01.01.2012 der Art. 17 der Verordnung (EU) Nr. 904/2010 (zuvor: Art. 27 der Verordnung (EG) Nr. 1798/2003).

Seiner bisherigen Rechtsprechung folgend (C-24/15, Plöckl, C-587/10, VSTR, etc.) hat der EuGH in diesem Urteil erneut die Bedeutung der materiellen Voraussetzungen der Steuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung betont. Insbesondere die Abgrenzung zu den formellen Anforderungen an eine Steuerbefreiung, welche weitestgehend durch die Mitgliedstaaten nach Maßgabe des Art. 131 MwStSystRL ausgestaltet werden, ist auch weiterhin von großer Bedeutung.

Nur in Fällen, in denen ein Steuerpflichtiger sich vorsätzlich an einer Steuerhinterziehung beteiligt hat, die das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems gefährdet oder in dem Fall, dass der Verstoß gegen eine formelle Anforderung den sicheren Nachweis der materiellen Anforderungen verhindert, lässt der EuGH Ausnahmen vom Grundsatz der steuerlichen Neutralität zu.

Insgesamt ist diese EuGH Entscheidung ein weiterer Meilenstein in der Abwehrsituation. Es wird erneut deutlich, dass der EuGH die materiellen Voraussetzungen der Steuerbefreiung für wesentlich betrachtet und formelle Anforderungen, wie eine USt-IdNr. nebensächlich sind. Allerdings setzt der EuGH immer voraus, dass kein Steuermissbrauch und keine Steuerhinterziehung vorliegen.

Für den täglichen Anwendungsfall im Unternehmen wird sich allerdings durch die Entscheidung kaum etwas ändern. Es ist nicht zu erwarten, dass die nationale Finanzverwaltung auf das Erfordernis einer gültigen ausländischen USt-IdNr. des Abnehmers zukünftig verzichten wird. Auch ist nicht zu erwarten, dass die nationale Rechtsprechung gänzlich auf die gültige ausländische USt-IdNr. des Kunden verzichtet, da sie Bestandteil des nationalen Buchnachweises ist. Daher ist Unternehmen auch weiterhin anzuraten den Buch- und Belegnachweisen und damit auch der qualifiziert bestätigen Abfrage der ausländischen USt-IdNr. des Kunden die erforderliche Aufmerksamkeit zu schenken. Der entscheidende Unterschied im Urteilssachverhalt zu evtl. Vorgängen in Unternehmen ist, dass im Entscheidungssachverhalt feststand, dass der Kunde Unternehmer ist und für sein Unternehmen die Waren bezogen hat und damit der Erwerb im Bestimmungsland der Besteuerung unterlegen hat sowie kein Steuermissbrauch/-betrug stattgefunden hat. Um derartige Voraussetzungen nachweisen zu können, kann sich – so die nationale Verwaltungsauffassung – der Unternehmer mittels qualifizierter Überprüfung der ausländischen USt-IdNr. des Kunden absichern und sollte dies auch – allein um im Zweifelsfall in den Genuss des Vertrauensschutzes zu gelangen – durchführen.

Für den Fall, dass allerdings Liefervorgänge in späteren Außenprüfungen negativ aufgegriffen werden, ist das vorliegende EuGH-Urteil ein wichtiges Abwehrargument.

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