EuGH zur Zollschuldentstehung

Anmerkung zu: EuGH, Urt. v. 15.05.2014, C-480/12, Anwendungsbereich der Art. 203 und 204 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92, Externes Versandverfahren – Entstehung der Zollschuld wegen Nichterfüllung einer Pflicht – Verspätete Gestellung der Waren bei der Bestimmungsstelle

Praxisproblem

Bei Pflichtverletzungen im Rahmen zollrechtlicher Versandverfahren stellt sich regelmäßig die Frage nach dem konkreten Zollschuldentstehungstatbestand. Der EuGH hatte im vorliegenden Verfahren die Zollschuldentstehung gem. Art. 203 und Art. 204 ZK voneinander abzugrenzen und zudem darüber zu entscheiden, ob in Fällen der Zollschuldentstehung nach Art. 204 ZK gleichsam auch die Einfuhrumsatzsteuerschuld entsteht.

Sachverhalt

Am 26.10.2005 meldete die Klägerin einen Dieselmotor zur Überführung in das externe gemeinschaftliche Versandverfahren an. Für die Gestellung des Motors bei der Bestimmungsstelle wurde die Frist auf den 28.10.2005 festgesetzt. Der Motor wurde jedoch erst 17 Tage verspätet, also am 14.11.2005 bei der Bestimmungsstelle gestellt und bei dieser zur aktiven Veredelung mit Zollrückvergütung angemeldet. Aufgrund der Fristüberschreitung ging die Zollstelle davon aus, dass das Versandverfahren nicht ordnungsgemäß abgeschlossen worden sei und erklärte die Überführung in das Zollverfahren der aktiven Veredelung für ungültig. Die Klägerin konnte keinen Nachweis über den ordnungsgemäßen Abschluss des Versandverfahrens erbringen, so dass die Zollstelle eine Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung gem. Art. 203 Abs. 1 ZK feststellte und Zoll und Einfuhrumsatzsteuer festsetzte.

Nachdem die Klage gegen die Festsetzung der Einfuhrabgaben erfolgreich war, reichte die Verwaltung Kassationsbeschwerde gegen die Entscheidung des Finanzgerichts ein. Nunmehr war durch den Gerichtshof zu entscheiden, ob das (bloße) Überschreiten der festgelegten Versandfrist zu einer Zollschuld wegen Entziehens aus der zollamtlichen Überwachung i.S.v. Art. 203 ZK oder Art. 204 ZK führt. Zudem stellte sich die Frage, ob in Fällen der Zollschuldentstehung nach Art. 204 ZK auch die Einfuhrumsatzsteuer entsteht.

Entscheidung

Nach Auffassung des EuGH sei es wichtig, den Anwendungsbereich von Art. 203 und 204 ZK zu unterscheiden. Art. 203 ZK umfasse die Fälle, in welchen Handlungen dazu führen, dass die Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen wird, während Art. 204 ZK auf Pflichtverletzungen und die Nichterfüllung von Voraussetzungen im Zusammenhang mit den verschiedenen Zollverfahren, die sich auf die zollamtliche Überwachung nicht ausgewirkt haben, anzuwenden sei. Aufgrund der Tatsache, dass sich Art. 203 ZK und Art. 204 gegenseitig ausschließen, musste zunächst geklärt werden, nach welcher Bestimmung die Zollschuld im konkreten Fall entstanden war. Nur in den Fällen, in denen kein Entziehen aus der zollamtlichen Überwachung gem. Art. 203 ZK vorliege, sei Art. 204 ZK einschlägig.

Dem Sachverhalt ist zu entnehmen, dass die Ware der Bestimmungsstelle verspätet vorgezeigt und das Versandverfahren verspätet durch Überführung in die aktive Veredelung beendet wurde. Ein Entziehen würde dieser Vorgang dann darstellen, wenn es sich dabei um eine Handlung oder Unterlassung handeln würde, die dazu führt, dass die zuständige Zollbehörde auch nur zeitweise am Zugang zu einer unter zollamtlicher Überwachung stehenden Ware und der Durchführung der in Art. 37 Abs. 1 des Zollkodex vorgesehenen Prüfungen gehindert wird. Hinsichtlich der streitgegenständlichen Ware sei mehr als zwei Wochen lang nicht bekannt gewesen, wo sich diese befunden habe. Da somit eine Unmöglichkeit des Zugriffs auf die Ware nur vorübergehend bestanden habe, könne nach der Rechtsprechung des EuGH die Anwendung von Art. 203 des ZK nur dann gerechtfertigt sein, wenn das Verschwinden der Ware die Gefahr eines Eintritts in den Wirtschaftskreislauf der Europäischen Union mit sich brachte. Das Vorhandensein von Nichtgemeinschaftswaren im Zollgebiet der Union birgt nämlich die Gefahr, dass diese Waren letztlich unverzollt in den Wirtschaftskreislauf der Mitgliedstaaten gelangen, wobei Art. 203 des Zollkodex dazu beiträgt, dass diese Gefahr sich nicht verwirkliche. Die streitgegenständlichen Waren sind der Bestimmungszollstelle um 17 Tage verspätet gestellt worden. Diese Waren sind mithin nicht ohne Abfertigung in den Wirtschaftskreislauf gelangt. Folglich soll es nach Auffassung des EuGH dem Anschein nach ausgeschlossen sein, dass Art. 203 ZK auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens Anwendung finde.

Die Zollschuld entsteht nach Art. 204 ZK, wenn Pflichten aus der Inanspruchnahme des Zollverfahrens verletzt wurden, es sei denn, dass sich diese Verfehlung nachweislich auf die ordnungsgemäße Abwicklung des Zollverfahrens nicht wirklich ausgewirkt hat. Art. 859 i.V.m. Art. 860 ZK-DVO enthalten eine Aufzählung von Verfehlungen, die sich nicht auf die ordnungsgemäße Abwicklung ausgewirkt haben. So sieht Art. 859 Nr. 2 Buchst. c ZK-DVO vor, dass bei lediglicher Fristüberschreitung zur Gestellung der Ware davon auszugehen ist, dass sich dies auf die ordnungsgemäße Abwicklung nicht ausgewirkt hat, sofern die die Ware innerhalb eines vertretbaren Zeitraums gestellt wurde. Insofern war nach Auffassung des EuGH im vorliegenden Fall die Zollschuld nach Art. 204 ZK entstanden.

Zur Frage der Einfuhrumsatzsteuerentstehung in Fällen der Zollschuldentstehung nach Art. 204 ZK hat der EuGH ausgeführt, dass eine Einfuhr dann vorliege, wenn ein Gegenstand, der vor dem Zeitpunkt seiner Verbringung dem externen Versandverfahren unterliege, in einem Mitgliedstaat nicht mehr diesen Regelungen unterliegt. Ab diesem Zeitpunkt würde nicht nur Zoll, sondern auch Einfuhrumsatzsteuer geschuldet. Sofern die Waren nunmehr im maßgeblichen Zeitpunkt nicht mehr dem Versandverfahren unterlegen haben, weil die Zollschuld nach Art. 204 ZK entstanden sei, so führt dies automatisch auch zur Entstehung der Einfuhrumsatzsteuerschuld.

Praxishinweis

Im Rahmen des zollrechtlichen Versandverfahrens können Waren zwischen zwei Orten innerhalb der Europäischen Union ohne Erhebung von Einfuhrabgaben transportiert werden. Somit wird dem Beteiligten die Möglichkeit geboten, die Verzollung einer Ware erst am endgültigen Bestimmungsort vorzunehmen.

Das bloße Überschreiten der festgelegten Gestellungsfrist ist keine Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung i.S.v. Art. 203 ZK, sondern eine Pflichtverletzung, die gem. Art. 204 ZK nicht nur zur Entstehung der Zollschuld, sondern auch der Einfuhrumsatzsteuerschuld führt Dies klärt die insbes. in Deutschland häufig aufgeworfene Frage zur gleichzeitigen Entstehung von Zoll und Einfuhrumsatzsteuer in Fällen von Pflichtverletzungen. Sofern eine Pflichtverletzung aus einem Zollverfahren begangen worden ist, entsteht nicht nur die Zollschuld, sondern gleichzeitig auch die Einfuhrumsatzsteuerschuld.